Entscheidungsstichwort (Thema)
"Arbeitsbereich" i.S.d. § 95 Abs. 3 Satz 1 BetrVG. Umstrukturierung eines Arbeitsplatzes als Schaffung eines neuen Arbeitsplatzes mit Ausschreibungspflicht gem. § 93 BetrVG. Zweckbestimmung des § 93 BetrVG
Leitsatz (amtlich)
Wenn ein Arbeitgeber einen Arbeitsplatz so umstrukturiert, dass der Stelleninhaber ohne eine längerfristige erfolgreiche Fortbildung außerhalb der üblichen Entwicklung des Berufsbildes die Tätigkeit nicht mehr ausüben darf, schafft der Arbeitgeber einen neuen Arbeitsplatz. Dieser ist nach § 93 BetrVG auszuschreiben.
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Zuweisung eines anderen Arbeitsbereichs i.S.d. § 95 Abs. 3 BetrVG liegt vor, wenn sich das Gesamtbild der bisherigen Tätigkeit des Arbeitnehmers so verändert, dass die neue Tätigkeit vom Standpunkt eines mit den betrieblichen Verhältnissen vertrauten Beobachters als eine "andere" anzusehen ist. Erforderlich ist, dass die eingetretene Änderung über solche im üblichen Schwankungsbereich liegenden Veränderungen hinausgeht und zur Folge hat, dass die Arbeitsaufgabe oder die Tätigkeit eine "andere" wird.
2. Sinn des § 93 BetrVG ist nicht nur die Aktivierung des betrieblichen Arbeitsmarktes, sondern auch die Transparenz betrieblicher Vorgänge und damit die Vermeidung von Verstimmungen und Beunruhigungen in der Belegschaft. Deshalb fällt eine gravierende Umstrukturierung eines Arbeitsplatzes in den Anwendungsbereich des § 93 BetrVG.
Normenkette
BetrVG §§ 93, 95 Abs. 3, § 99 Abs. 2 Nr. 5, Abs. 3; SGB IX § 60; WVO § 9
Verfahrensgang
ArbG Oldenburg (Oldenburg) (Entscheidung vom 15.02.2022; Aktenzeichen 1 BV 5/21) |
Tenor
Die Beschwerde der Arbeitgeberin gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Oldenburg vom 15. Februar 2022 - 1 BV 5/21 - wird zurückgewiesen.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um die Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrates zur Versetzung der Mitarbeiterin F.
Die Arbeitgeberin und Beteiligte zu 1) (im Folgenden: Arbeitgeberin) betreibt Einrichtungen der Hilfestellung für und Betreuung von Menschen mit psychischen Erkrankungen, seelischen Behinderungen und Abhängigkeitserkrankungen. Sie beschäftigt in der Regel mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer.
Der Betriebsrat und Beteiligte zu 2) (im Folgenden: Betriebsrat) ist der bei der Arbeitgeberin gebildete Betriebsrat. Aufgrund eines bestehenden Tarifvertrages gemäß § 3 BetrVG besteht ein einrichtungsübergreifender Betriebsrat.
Die Mitarbeiterin F. ist gelernte Diätköchin und übt zurzeit die Funktion der Leitung der Küche im Kompetenzzentrum in A-Stadt aus. Dieser Arbeitsplatz soll im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) inhaltlich und strukturell geändert werden. Die Arbeitgeberin nutzt die eröffnete Möglichkeit der "anderen Leistungsanbieter (aLa)" nach dem BTHG und bildet eine neue pädagogische Einrichtung mit dem ehemaligen Küchenbereich in der Wohnanlage. Um als anderer Leistungsanbieter agieren zu können, benötigen die entsprechenden Leistungskräfte sowohl eine kaufmännische, technische oder handwerkliche Ausbildung einerseits, als auch andererseits eine sonderpädagogische Zusatzqualifikation (SPZ). Dies ergibt sich aus § 60 SGB IX i. V. m. § 9 der Werkstättenverordnung (WVO). Eine derartige sonderpädagogische Zusatzqualifikation stellt die Zusatzausbildung als geprüfte Fachkraft zur Arbeits- und Berufsförderung (gFAB) dar. Diese umfasst 800 Unterrichtsstunden, verteilt auf 17 Blockwochen mit 5 Unterrichtstagen. Eine solche Zusatzausbildung absolviert F. derzeit. Sie darf bereits im Sinne von § 9 Werkstättenverordnung eingesetzt werden, weil es ausreichend ist, wenn die entsprechende Qualifikation in den ersten 5 Jahren nachgeholt wird.
Bei der Arbeitgeberin gilt eine Konzernbetriebsvereinbarung zur übergreifenden Ausschreibung von zu besetzenden Stellen vom 22./27. Juni 2012. Darin heißt es unter anderem (Bl. 10 f d. A.):
"...
§ 2 Geltungsbereich
Die Betriebsvereinbarung gilt in folgenden Gliederungen:
...
AWO Trialog Weser/Ems GmbH
...
§ 3 Ausschreibung von freien Arbeitsstellen
1. Jede eine Frist von 6 Monaten überschreitende bzw. unbefristet zu besetzende Stelle in einer der in § 2 genannten Gesellschaften wird übergreifend in allen Unternehmen, für die diese Betriebsvereinbarung gilt, ausgeschrieben. Bei der Ausschreibung wird eine zweckmäßige Vorsortierung nach Gesellschaften vorgenommen, d. h. Stellenausschreibungen für zum Beispiel eine Pflegekraft erfolgen in den Gesellschaften Wohnen & Pflegen, Wohnparks und der Trialog.
..."
Mit Anhörung vom 24. März 2021 (Bl. 7 d. A.), versehentlich auf den 24. April 2021 datiert, beantragte die Arbeitgeberin die Zustimmung des Betriebsrates zum Einsatz von F. als (stv.) Leitung anderer Leistungsanbieter (aLa). Zudem solle ihr eine Zulage in Höhe der Differenz zur EG 9 Stufe 4 (derzeit 311,58 EUR) gezahlt werden.
Der Betriebsrat widersprach mit E-Mail vom 31. März 2021 mit der Begründung, das Ausschreibungserfordernis nach der Konzernbetriebsvereinbarung sei nich...