Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtliche Auswirkung eines Pflegegutachtens

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein "normaler" Verwaltungsfehler stellt keinen in die Interessenabwägung bei der Ermessensausübung einzustellenden Umstand dar, wenn sich der Bescheidadressat vorwerfbar im Sinne von § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB X verhalten hat.

2. Ein Anpassungsbescheid, der aufgrund eines Eingabefehlers erstmals eine - weitere - Leistung ausweist, kann ausnahmsweise Regelungswirkung entfalten und damit einen Verwaltungsakt darstellen.

3. Einem Pflegegutachten sowie einer notariellen Urkunde kann eine indizielle Bedeutung im Hinblick auf die Feststellung von Einschränkungen in der Geschäftsfähigkeit zukommen.

 

Orientierungssatz

1. Eine sozialleistungsberechtigte Person ist aufgrund des Sozialrechtsverhältnisses gehalten, Bewilligungsbescheide zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen, und kann sich deshalb später nicht darauf berufen, einen Behördenfehler nicht erkannt zu haben, der sich aus der Begründung des Bescheids ergibt.

2. Wenn das Hinzutreten der Witwerrente zunächst zum Wegfall des Anspruchs auf Ausgleichsrente geführt hat, kann eine versorgungsberechtigte Person nicht ernsthaft davon ausgehen, dass ihr - bei im Wesentlichen unveränderten Einkommensverhältnissen - die Ausgleichsrente nach einer maschinellen Anpassung der Versorgungsbezüge nur vier Monate später - plötzlich in vierfacher Höhe zustehen würde.

3. Zum Leitsatz 2: Abgrenzung zu BSG vom 16.12.2004 - B 9 VG 1/03 R = SozR 4-3800 § 10a Nr 1 und vom 22.6.1986 - 9/9a RV 46/86 = BSGE 63, 266 = SozR 3642 § 9 Nr 3.

 

Normenkette

SGB X §§ 24, 45 Abs. 1, 2 Sätze 1-2, 3 Nrn. 1, 3, Abs. 4 S. 2, § 50 Abs. 1 S. 1; SGB XI § 45a; BVG § 32 Abs. 1, § 33 Abs. 1 S. 1, Abs. 4; SGG § 54 Abs. 1 S. 1, §§ 95, 118 Abs. 1, § 183 S. 2, § 193; ZPO § 415

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 6. Mai 2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich als Rechtsnachfolgerin ihres am 7. September 2022 verstorbenen Vaters S1 (Geschädigter) gegen die Rückforderung überzahlter Ausgleichsrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Der 1932 geborene Geschädigte hatte nach dem Bericht der Unfallstation des Allgemeinen Krankenhauses W1 vom 13. April 1944 am 13. April 1944 mit zwei Gefährten hinter dem elterlichen Wohnhaus in W1 mit einer 12 cm langen und 2 cm dicken Sprengpatrone, die ein Schulkameraden bei einem abgestürzten Flugzeug gefunden haben sollte, gespielt. Der Geschädigte habe an der Patrone herumgeschraubt, wobei diese explodiert sei und alle drei Knaben verletzt habe. Im Röntgen habe sich eine Zerreißung der rechten Mittelhand gezeigt. Die Finger hätten vollständig gefehlt, ebenso ein Teil der Handwurzel und der Mittelhandknochen. In den Weichteilen zeigten sich zahlreiche kleine metallische Einsprengungen. Es sei eine Amputation der rechten Hand im Speichen-Handwurzelgelenk erfolgt. Als Schädigungsfolge wurde ein Verlust der rechten Hand sowie eine reaktionslos verheilte Narbe an der rechten Gesäßbacke anerkannt und nach dem BVG eine Beschädigtengrundrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE - jetzt Grad der Schädigungsfolgen [GdS]) von 50 vom Hundert (v. H.) geleistet.

Aufgrund des Anpassungsbescheides vom 20. Juni 2014 des Landratsamtes R1 (LRA) bezog der Geschädigte Versorgungsleistungen in Höhe von 468,00 € monatlich, bestehend aus der Beschädigtengrundrente (264,00 €), dem Pauschbetrag (27,00 €), der Ausgleichsrente (102,00 €) und dem Ehegattenzuschlag (75,00 €).

Am 15. Oktober 2014 teilte der Kläger dem LRA das Versterben seiner Ehefrau, S2 (geb. 1931), 2014 mit. Deshalb hob das LRA durch Bescheid vom 15. Oktober 2014 den Bescheid vom 20. Juni 2014 auf und gewährte ab dem 1. November 2014 Versorgungsbezüge nur noch in Höhe von 393,00 €. Durch den Tod der Ehefrau sei eine wesentliche Änderung eingetreten, sodass kein Ehegattenzuschlag (bisher 75,00 €) mehr beansprucht werden könne.

Die Deutsche Rentenversicherung Baden-Württemberg (DRV) bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 3. Dezember 2014 große Witwerrente ab dem 1. November 2014 mit einem Zahlbetrag ab 1. Februar 2015 von 284,42 €.

Mit Bescheid vom 24. Februar 2015 gewährte das LRA Versorgungsbezüge ab dem 1. November 2014 in Höhe von 291,00 € (Grundrente 264,00 €, Pauschbetrag 27,00 €), abzüglich Tilgung (127,50 €) von 163,50 €. Dem Kläger sei große Witwerrente bewilligt worden, sodass ab dem 1. November 2014 kein Anspruch auf Ausgleichsrente mehr bestehe. Die eingetretene Überzahlung von 510,00 € werde zurückgefordert und in Raten von 127,50 monatlich einbehalten.

Der Bescheid vom 22. Juni 2015 aufgrund der 21. Verordnung zur Anpassung des Bemessungsbetrages und von Geldleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (KOV-AnpV 2015) gewährte Versorgungsbezüge in Höhe von insgesamt 724,00 €, bestehend aus Beschädigtengrundrente (270,00 €), Pauschbetrag (27,00 €) sowie Ausgleichsrente (426,00 €) abzüglich Tilgung (1...

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