Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Anfallsleiden. häufige nicht kalkulierbare Arbeitsunfähigkeitszeiten. unübliche Arbeitsbedingungen. schwere spezifische Leistungseinschränkung. Erforderlichkeit von Feststellungen zu Häufigkeit und Schwere der Anfälle sowie zur Prognose der Erkrankung
Leitsatz (amtlich)
1. Häufige nicht kalkulierbare, mit einer vollständigen Leistungsunfähigkeit verbundene Arbeitsunfähigkeitszeiten aufgrund eines Anfallsleidens sind den "unüblichen Arbeitsbedingungen" zuzuordnen, weshalb Gesundheitsstörungen mit entsprechenden Arbeitsunfähigkeiten schwere spezifische Leistungseinschränkungen darstellen können.
2. Zur Beantwortung der Frage, inwieweit der Arbeitsmarkt iS einer Beschäftigung unter "üblichen" Bedingungen durch ein Anfallsleiden verschlossen ist, bedarf es Feststellungen zu Häufigkeit und Schwere der Anfälle sowie zur Prognose der Erkrankung. Zur Quantifizierung der Anfallsfrequenz können angesichts der vergleichbaren Folgen von epileptischen Anfällen mit sonstigen Anfallsleiden die für epileptische Anfälle geltenden DGUV-Informationen 250-001 (Berufliche Beurteilung bei Epilepsie und nach erstem epileptischen Anfall, Ausgabedatum Januar 2015, aktualisierte Fassung Dezember 2019) zugrunde gelegt werden.
Orientierungssatz
Zum Leitsatz 2 vgl BSG vom 12.12.2006 - B 13 R 27/06 R = SozR 4-2600 § 43 Nr 10.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 18. Dezember 2019 und der Bescheid der Beklagten vom 31. März 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 2017 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger über den 30. April 2014 hinaus eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bis zum 30. Juni 2019 zu gewähren.
Die Beklagte erstattet dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten in beiden Instanzen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Weitergewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung für die Zeit vom 30.04.2014 bis zum 30.06.2019 streitig.
Der 1958 geborene Kläger war nach einer Lehre als Maschinenschlosser bei der Deutschen Bundesbahn als Montagearbeiter und Einrichter, von April 1979 bis Februar 1996 als Versicherungsvertreter (Angestellter im Versicherungsaußendienst) und vom 01.06.1996 bis 30.06.1999 als selbstständiger Handelsvertreter tätig, wobei er für die Zeit vom 01.03.1996 bis 31.01.1999 freiwillige Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet hatte. Anschließend war er bis 31.10.2002 als Tankwart mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 25 Stunden beschäftigt. Ausweislich der Arbeitgeberbescheinigung vom 10.04.2006 kündigte der Arbeitgeber dieses Arbeitsverhältnis, weil der Kläger auf Grund von Krankheit immer öfter seiner Arbeit nicht habe nachgehen können. Danach war der Kläger arbeitsunfähig bzw. arbeitslos, bezog bis Mai 2003 Krankengeld und anschließend bis Mai 2004 Arbeitslosengeld. Seit Mai 2004 war er arbeitslos ohne Leistungsbezug gemeldet. Von April 2013 bis Februar 2014 übte er eine geringfügige, nicht versicherungspflichtige Tätigkeit aus. Seit dem 01.07.2019 bezieht er eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen.
Ein im Jahr 2002 gestellter Antrag auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente, den der Kläger mit einem Anfallsleiden begründete, blieb nach Einholung eines Gutachtens bei dem U1 vom 21.08.2002 (Diagnosen: V.a. fokale Anfälle mit fraglicher sekundärer Generalisierung, Schwindelattacken ungeklärter Ätiologie, V.a. psychosomatisches Syndrom; mindestens sechsstündiges Leistungsvermögen für leidensgerechte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes) erfolglos (Ablehnungsbescheid vom 20.09.2002, Widerspruchsbescheid vom 29.04.2003). Im Rahmen des deswegen angestrengten Klageverfahrens vor dem Sozialgericht (SG) Karlsruhe (S 14 R 1792/03) holte das SG ein medizinisches Sachverständigengutachten bei D1 vom 20.10.2003 ein, der beim Kläger die Diagnose „Synkopen unklarer Genese“ stellte und ein vollschichtiges Leistungsvermögen annahm.
Während des Klageverfahrens S 14 R 1792/03 absolvierte der Kläger in der Zeit vom 19.07.2005 bis 12.08.2005 eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme im Epilepsie-Zentrum B1, Rehabilitations-Abteilung für Anfallskranke. Ausweislich des Entlassberichts der S1 und H1 vom 16.09.2005 stellten diese die Diagnosen „dissoziative Anfälle und kombinierte Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen und abhängigen Anteilen“ und entließen den Kläger unter Beachtung von qualitativen Einschränkungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für mindestens sechs Stunden leistungsfähig.
Gestützt auf das Gutachten des D1 wies das SG die Klage mit Urteil vom 31.01.2006 ab (S 14 R 1792/03). Auf die hiergegen zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegte Berufung (L 4 R 946/09) änderte das LSG die erstinstanzliche Entscheidung mit Urteil vom 23.01.2009 ab, verurteilte die Beklagte, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.03.2006 bis 28.02.2010 zu gewähren und wies die Ber...