Entscheidungsstichwort (Thema)
Anerkennung einer Polyneuropathie als durch organische Phosphatverbindungen verursachte Berufskrankheit nach Nr. 1307 BKV
Orientierungssatz
1. Für die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) muss eine versicherte Tätigkeit zu Einwirkungen von Belastungen oder Schadstoffen auf den Körper geführt haben; die Einwirkungen müssen eine Krankheit verursacht haben. Diese Tatbestandsmerkmale müssen i. S. des Vollbeweises bewiesen sein. Für den Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkung und Erkrankung genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit.
2. Zur Anerkennung einer BK nach Nr. 1307 der Anlage zur BKV - Erkrankung durch organische Phosphorverbindungen - ist u. a. eine ausreichende Expositionsdosis durch neurotoxische Pflanzenschutzmittel mit organischen Phosphorverbindungen erforderlich.
3. Nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft führen langjährige berufliche Tätigkeiten unter dem Einsatz organischer Phosphorverbindungen in großen Mengen unter ungünstigen arbeitshygienischen Bedingungen zum Auftreten einer Polyneuropathie.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 31. Mai 2012 aufgehoben. Der Bescheid der Beklagten vom 10. November 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28. Juni 2006 wird abgeändert. Es wird festgestellt, dass die beim Kläger bestehende sensibel akzentuierte axonal distal-symmetrische Polyneuropathie eine Berufskrankheit nach der Nr. 13 der Berufskrankheiten-Liste der ehemaligen DDR sowie nach der Nr. 1307 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung ist und dass die Beigeladene diesbezüglich grundsätzlich Leistungen zu erbringen hat.
Die Beigeladene trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten (noch) über die Feststellung einer Polyneuropathie als Berufskrankheit (BK) nach der Nr. 1307 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV - Erkrankungen durch organische Phosphorverbindungen) und nach der Nr. 13 der Berufskrankheiten-Liste der ehemaligen DDR (Erste Durchführungsbestimmung zur Verordnung über die Verhütung, Meldung und Begutachtung von Berufskrankheiten - Liste der Berufskrankheiten - vom 21. April 1981, Gesetzblatt der DDR I Nr. 12, S. 137, 140 - Krankheiten durch organische Phosphorverbindungen).
Der 1949 geborene Kläger war in der ehemaligen DDR als Agrochemiker tätig. Zu seiner Tätigkeit gehörte insbesondere das Ausbringen von Pflanzenschutzmitteln (Pestizide, Fungizide, Insektizide und Herbizide) auf landwirtschaftliche Flächen. Soweit vorliegend relevant, war er von August 1971 bis April 1972 sowie von Oktober/November 1973 bis April 1991 (unterbrochen lediglich durch eine ca. sechsmonatige Tätigkeit als Bauhelfer) bei der Bäuerlichen Handelsgesellschaft (BHG) T bzw. im Agrochemischen Zentrum (ACZ) T, das aus der BHG hervorgegangen war, im Bereich Pflanzenschutz beschäftigt. Nach Angaben des Klägers erbrachte das ACZ T Leistungen für die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften T, S und H auf einer Gesamtfläche von zirka 15 000 ha. Von Mai 1991 bis Dezember 1997/Januar 1998 war der Kläger beim Nachfolgebetrieb des ACZ T, der Firma A GmbH, tätig. Ab 1990 war er nach eigenen Angaben nur noch in der Werkstatt eingesetzt. Seit 1. Juli 2003 bezieht der Kläger nach eigenen Angaben eine Rente wegen Erwerbsminderung.
Der Kläger gab zum Beginn seiner Erkrankung an, 1975 wegen Herzrasens mehrmals in der Rettungsstelle des D-Krankenhauses L gewesen zu sein. Bereits 1980 habe er ein Taubheitsgefühl in den Beinen gespürt und sei deshalb seit 1994 in Behandlung gewesen. Jedenfalls am 14. März 1996 stellte er sich mit Schmerzen und Missempfindungen im linken Fuß bei dem Arzt für Psychiatrie und Neurologie Dr. O vor, der ein Radikulärsyndrom L5 diagnostizierte. Vom 9. Juli bis 8. August 1996 wurde der Kläger in der Neurologischen Abteilung des St. J-Krankenhauses P behandelt, im Entlassungsbericht ist ausgeführt, dass die Aufnahme erfolgt sei wegen eines erstmals im Oktober 1990 verspürten Taubheitsgefühls am linken Fuß, welches sich mit der Zeit auf das gesamte linke Bein ausgebreitet habe. Diagnostiziert wurde der Verdacht auf eine Neuroborreliose. Der Verdacht auf eine Polyneuropathie wurde, soweit ersichtlich, erstmals am 26. Februar 2002 aufgrund einer Vorstellung in dem Universitätsklinikum B, Neurologische Klinik und Poliklinik, gestellt. Der Kläger war dort in der Folgezeit weiterhin in Behandlung; mit Arztbrief vom 28. Februar 2003 wurde von hier eine sensibel akzentuierte, axonale distal-symmetrische Polyneuropathie unklarer Genese mit autonomer Blasenstörung und Restharnbildung mitgeteilt. In einem Reha-Entlassungsbericht der Fachklinik W über eine dortige Behandlung vom 3. bis 24. Dezember 2003 aufgrund der Diagnosen sensibel akzentuierte distal-symmetrische axonale Polyneuropathie, sensible Gangataxie bei sensomotorischer Paraparese, autonome Dysregulation, Verdacht auf funikuläre Myelose bei Vitamin B1...