Rn 2
Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung bedeutet, dass der Richter über den konkreten Beweiswert eines Beweismittels nach freier Überzeugung, dh grds ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln, befinden kann (R/S/G § 114 Rz 1). So ist er nicht gehindert, seine Überzeugung allein aus der Glaubhaftigkeit und Plausibilität des Klägervortrags herzuleiten (BVerfG NJW 17, 3218, 3220 [BVerfG 01.08.2017 - 2 BvR 3068/14] Rz 58; BGH MDR 18, 172 Rz 12 = Bespr Greger MDR 18, 328 [BGH 27.09.2017 - XII ZR 48/17]; Saarbr NJW-RR 11, 178, 179 [OLG Saarbrücken 08.06.2010 - 4 U 468/09-134]), einer Parteibehauptung mehr Glauben zu schenken als einem Zeugen oder einem Sachverständigen (BVerfG NJW 01, 2531, 2532 [BVerfG 21.02.2001 - 2 BvR 140/00]; BGH NJW 99, 363, 364 [BGH 16.07.1998 - I ZR 32/96]), das Ergebnis einer Anhörung nach § 141 höher zu bewerten als die Aussage des als Partei vernommenen Prozessgegners (BGH NJW 03, 2527, 2528 = BGHReport 03, 1105, 1106 m Anm Laumen; BGHZ 235, 239, 247 Rz 19 = NJW 23, 983, 984 m Anm Thora; KG NJW 18, 239) oder einer Zeugenaussage (vgl Karlsr NJW-RR 98, 789 f [OLG Karlsruhe 14.11.1997 - 10 U 169/97]). Ihm steht es auch frei, trotz mehreren bestätigenden Zeugenaussagen das Gegenteil der entsprechenden Behauptungen als erwiesen zu erachten (KG MDR 04, 533 [KG Berlin 03.11.2003 - 22 U 136/03]; NJW-RR 10, 1113, 1114 [KG Berlin 19.10.2009 - 12 U 227/08]). Ganz allgemein darf er aus einer Beweisaufnahme und den sonstigen Verhandlungsstoff Schlussfolgerungen ziehen, an die die Parteien nicht gedacht haben oder von ihnen geleugnet werden (vgl Ddorf NJW 20, 1746 ff [BGH 26.02.2020 - IV ZR 235/19] m Anm Kemper/Kerkhoff bzgl Schwarzgeldabrede; aA insoweit KG NJW 17, 3792, 3794 [KG Berlin 08.08.2017 - 21 U 34/15] Rz 39). Eine rechtliche Bindung des Richters an die Ergebnisse eines Sachverständigengutachtens schließt § 286 I ebenfalls aus. Das Gesetz geht vielmehr davon aus, dass der Richter – trotz aller Schwierigkeiten im Einzelfall – durchaus in der Lage ist, sich über den Wert oder Unwert eines Sachverständigengutachtens ein eigenes Urt zu bilden (vgl BGH NJW 92, 2354, 2355 [BGH 07.04.1992 - VI ZR 216/91] für ein medizinisches Gutachten; BGH MDR 12, 1289, 1290 [BGH 22.08.2012 - XII ZB 141/12]; vgl auch den Fragenkatalog bei Laumen MDR 23, 149 f). So hat er zB zu prüfen, ob dem Gutachten fehlerhafte juristische Vorstellungen des Sachverständigen zugrunde liegen (BGH NJW-RR 95, 914, 915), der Sachverständige von der zutreffenden Tatsachengrundlage ausgegangen ist, der Sachverständige über die erforderliche Sachkunde verfügt (zum Grundsatz der Fachgebietsgleichheit bei medizinischen Fragen BGH NJW 16, 3785 [BGH 31.05.2016 - VI ZR 305/15]; Dresd NJW-RR 22, 1468 f), er sich iRd Gutachtenauftrags gehalten hat oder über den Auftrag hinausgegangen ist, was ggf zur Unverwertbarkeit des Gutachtens führen kann (BGH NJW-RR 23, 851 [BGH 29.03.2023 - XII ZB 515/22] Rz 12), und er die vorgegebenen Anknüpfungstatsachen vollständig verwertet hat (BVerfG NJW 1995, 40 [BVerfG 11.10.1994 - 1 BvR 1398/93]).
Rn 3
Freilich darf der Richter sein eigenes Wissen nicht ohne weiteres an die Stelle der fachkundigen Aussage eines Sachverständigen setzen (BVerfG FamRZ 21, 1201, 1203 Rz 20; BGH NJW-RR 97, 1108). So darf er grds einen medizinischen Facharztstandard nicht ohne eine entsprechende Grundlage in einem Sachverständigengutachten oder gar entgegen den Ausführungen eines Sachverständigen aus eigener Beurteilung heraus festlegen (BGHZ 138, 1, 6 = NJW 98, 1780 – Feststellung eines groben Behandlungsfehlers; BGH NJW 21, 1536 Rz 14 ff = Bespr Laumen MDR 21, 795 ff). Das Gleiche gilt für die Feststellung der allg anerkannten Regeln der Technik (BGH BauR 19, 1011 Rz 11). In einigen Fällen schreibt das Gesetz dem Richter unabhängig vom Maß seiner jeweiligen Sachkunde auch die Einholung eines Sachverständigengutachtens zwingend vor (vgl nur §§ 280 I, 321 I FamFG, §§ 3a II 1, 14 II RVG). Weicht das Gericht von den Ausführungen eines Sachverständigen ab, ist vielmehr stets der Nachweis der entsprechenden Sachkunde und die Darlegung einer nachvollziehbaren Begründung für die Abweichung im Urt erforderlich (BVerfG NJW-RR 14, 1290 Rz 17; BGH NJW 15, 1311 Rz 5; MDR 18, 885 Rz 16; FamRZ 23, 1571, 1574 Rz 26). Zuvor muss das Gericht den Parteien Gelegenheit geben, zu der beanspruchten Sachkunde Stellung zu nehmen (BGHZ 156, 250, 254 f = NJW 04, 1163, 1164; BGH NJW-RR 24, 148, 149 Rz 20). Liegen widersprüchliche Gutachten vor, darf der Richter den Streit der Sachverständigen nicht dadurch entscheiden, dass er ohne einleuchtende und logisch nachvollziehbare Begründung einem von ihnen folgt (BGH NJW-RR 04, 1679, 1680 [BGH 22.09.2004 - IV ZR 200/03]; MDR 15, 277 [BGH 11.11.2014 - VI ZR 76/13] Rz 15). Dies gilt auch für Widersprüche zwischen einem gerichtlich eingeholten Gutachten und einem Privatgutachten (BGH NJW 17, 3661 [BGH 17.05.2017 - VII ZR 36/15]; 22, 2845, 2846 [BGH 22.06.2022 - XII ZB 544/21] Rz 18). Ein Privatgutachten kann im...