Entscheidungsstichwort (Thema)

Kein Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe für einen vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 betroffenen Unionsbürger

 

Orientierungssatz

1. Entgegen den Entscheidungen des BSG vom 3. 12. 2015 und vom 16. 12. 2015 ist für nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 von Leistungen der Grundsicherung ausgeschlossene erwerbsfähige hilfebedürftige Ausländer ein Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB 12 ebenfalls gesetzlich ausgeschlossen.

2. § 21 S. 1 SGB 12 versperrt erwerbsfähigen und deshalb dem SGB 2 zuzuordnenden Hilfebedürftigen den Zugang zu Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB 12. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 hat eine systemausschließende Funktion.

3. Wortlaut, Zweck und Gesetzessystematik gebieten eine Auslegung des § 21 S. 1 SGB 12 dahingehend, dass erwerbsfähige Personen, wenn sie einem nicht an die Erwerbsfähigkeit anknüpfenden Leistungsausschluss nach dem SGB 2 unterliegen, keinen Anspruch auf Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB 2 haben.

4. Über diese Gesetzessystematik kann auch eine sog. verfassungskonforme Auslegung nicht hinweghelfen; eine solche Auslegung ist nur unter Beachtung der Grenzfunktion des Gesetzeswortlauts und unter Berücksichtigung der Gesetzessystematik zulässig.

5. Das durch Art. 1, 20 GG gesicherte Existenzminimum ist regelmäßig dadurch gewährleistet, dass die Rückkehr in das zur Europäischen Union gehörende und solchermaßen ebenfalls eine Existenzsicherung garantierende Herkunftsland im Rahmen der Eigenverantwortung des Einzelnen dem Betroffenen zuzumuten ist.

6. Es bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen einen "grundsicherungslosen Zustand" eines hilfebedürftigen Unionsbürgers, solange diesem die Rückkehr in den jeweiligen Herkunftsmitgliedstaat möglich und zumutbar ist.

 

Tenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

 

Gründe

Der am 7. März 2016 beim Sozialgericht Berlin eingegangene sinngemäße Antrag,

den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin umgehend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB XII einschließlich Leistungen für Unterkunfts- und Heizkosten zu gewähren,

ist zulässig, aber nicht begründet.

Mangels ausdrücklicher zeitlicher Beschränkung des Antrages geht die Kammer davon aus, dass die Antragstellerin Leistungen für 1 Jahr begehrt (vgl. § 44 Abs. 3 S. 1 SGB XII).

Nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

Voraussetzung ist mithin das Vorliegen eines Anordnungsanspruches und eines Anordnungsgrundes, wobei der Anordnungsanspruch den materiellen Anspruch auf die Regelung an sich beinhaltet und der Anordnungsgrund ein besonderes Eilbedürfnis, also die Dringlichkeit der begehrten Regelung für den Antragsteller voraussetzt. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass durch eine einstweilige Anordnung grundsätzlich keine endgültige Entscheidung vorweggenommen werden darf. Sowohl Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 86b Abs. 2 S. 4 SGG glaubhaft zu machen.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze vermag die Kammer hier keinen Anordnungsanspruch zu erkennen.

Die Antragstellerin hat weder einen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) gegen den Beigeladenen (hierzu sogleich unter 1.) noch einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII gegen den Antragsgegner (hierzu unter 2.) glaubhaft gemacht. Im Einzelnen:

1. Die Antragstellerin hat keinen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II gegenüber dem nach § 75 SGG beigeladenen Jobcenter glaubhaft gemacht, denn sie ist als lediglich zur Arbeitssuche in Deutschland aufenthaltsberechtigte Unionsbürgerin von solchen Leistungen ausgeschlossen.

Die 1976 geborene Antragstellerin, die slowenische Staatsangehörige ist, hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet, § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II, und ist auch im Sinne des § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und 2 SGB II erwerbsfähig, denn sie hat das 15. Lebensjahr vollendet, zugleich die für sie nach § 7a SGB II maßgebliche Altersgrenze noch nicht erreicht, und ist mangels hinreichender entgegenstehender Anhaltspunkte in der Lage, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein, was ihr als Unionsbürgerin in Deutschland auch erlaubt ist (vgl. § 8 SGB II).

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