Nicht immer gelingt es Opfern von Gewalttaten, eine Entschädigung von den Tätern zu erlangen. Für solche Fälle gibt das EU-Recht den Mitgliedstaaten vor, eine Regelung zu treffen, die eine staatliche Entschädigung für die Opfer vorsieht. Die Richtlinie bezieht sich ausdrücklich auf grenzüberschreitende Fälle. Vor dem EuGH ist nun ein Fall anhängig, in dem es nicht darum geht, ob ein Opfer aus einem anderen EU-Land entschädigt werden soll, sondern darum, ob auch Fälle mit einem Täter aus einem anderen EU-Land erfasst sind (Rs. C-129/19). Zudem geht es um die Angemessenheit einer solchen staatlichen Entschädigung. Die Entscheidung des EuGH wird in einigen Monaten erwartet; der Generalanwalt hat jedoch bereits sein Votum abgegeben.
Er ist der Auffassung, dass die einschlägige EU-Richtlinie (2004/80/EG des Rates v. 29.4.2004 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten, ABl 2004, L 261, S. 15) den Mitgliedstaaten vorschreibt, in derartigen Fällen jedes Opfer einer vorsätzlich begangenen Gewalttat zu entschädigen. Dies gelte auch unabhängig davon, wo das Opfer seinen Wohnsitz habe. Zur Begründung führte er die Charta der Grundrechte der Europäischen Union und die Gewaltenteilung an.
Wie der Generalanwalt ausführt, liegt nach dem Wortlaut der Richtlinie eine "grenzüberschreitende Situation" vor, wenn eine vorsätzliche Gewalttat in einem anderem als dem Mitgliedstaat begangen worden sei, in dem das Opfer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat ("reisendes Opfer"). Es gebe aber auch in der Richtlinie nicht ausdrücklich erwähnte Situationen, in denen der Täter und nicht das Opfer von seiner Freizügigkeit innerhalb der EU Gebrauch gemacht habe ("reisender Täter"). Gerade in diesen Situationen könne der Täter leicht flüchten, indem er in sein Land zurückkehre. Daher wäre es nicht gerechtfertigt, solche Fälle vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszunehmen.
Mit dieser Auslegung widerspricht der Generalanwalt ausdrücklich der Auffassung der Europäischen Kommission, dass die EU-Richtlinie gerade nicht beabsichtigt habe, dass auch Opfer von innerstaatlichen Fällen erfasst sein sollen. Dagegen argumentiert der Generalanwalt, dass eine solche Auslegung in der Richtline nicht klar formuliert und daher für den EuGH auch nicht bindend sei.
Zur Höhe der staatlichen Entschädigung vertritt der EuGH-Generalanwalt die Auffassung, dass sie dann "gerecht und angemessen" i.S.d. Richtlinie ist, wenn mit ihr ein bedeutsamer Beitrag zum Ersatz des dem Opfer zugefügten Schadens geleistet wird. Insbesondere dürfe der Betrag der gewährten Entschädigung nicht so niedrig sein, dass er rein symbolisch erscheine oder für das Opfer praktisch von vernachlässigbarem oder geringem Nutzen sei.
[Quelle: EuGH]