"Erstattungen werden bewusst verschleppt" und "Entscheidung, das Recht zu brechen" sind nur zwei Beispiele von Pressekommentaren aus der letzten Zeit, die sich mit der Entschädigungspraxis der Fluglinien bei Flugausfall oder -verspätung befasst haben. Probleme bei der Geltendmachung derartiger Kundenansprüche sind ein häufiges Phänomen auch in der Praxis von Anwaltskanzleien. Offenbar wird der Kundenservice bei vielen Fluggesellschaften nicht gerade großgeschrieben. Geschädigte werden oft weiterverwiesen oder nur oberflächlich unter Verwendung von Textbausteinen beschieden.
Dabei ist die Rechtslage in der EU-FluggastrechteVO (Verordnung [EG] Nr. 261/2004) so klar wie sonst kaum ein anderer Lebenssachverhalt geregelt; geradezu detailliert werden die Vertragsstörungen beschrieben und die Ansprüche der Reisenden festgelegt. Den Grund, warum viele Airlines trotzdem alles tun, um sich ihren ungeliebten Verpflichtungen zu entziehen, sehen Beobachter in einem enormen Kosten- und Konkurrenzdruck in der Branche. Bei vielen Gesellschaften ist daher auch der Kundenservice oft unterbesetzt, schlecht ausgebildet und steht unter hohem Zeitdruck. Aus Presseberichten geht hervor, dass er offenbar nicht selten den klaren Auftrag hat, auch eindeutig berechtigte Forderungen konsequent abzuwimmeln. Das Kalkül der Gesellschaften wird wie folgt beschrieben: Wenn sich neun von zehn Geschädigten durch hohe Anwalts- und Gerichtskosten von der Durchsetzung ihrer Ansprüche abbringen lassen, dann spart die Airline mehr als der verlorene Prozess gegen den zehnten Anspruchsteller kostet.
Die Bundesregierung hat kürzlich auf eine Anfrage im Bundestag die Verstöße gegen die FluggastrechteVO in Deutschland quantifiziert (vgl. BT-Drucks 19/31316). Danach gingen im Jahr 2020 beim Luftfahrt-Bundesamt insgesamt 4.132 Fluggastanzeigen ein. 3.454 Anzeigen seien wegen der Annullierung von Flügen eingegangen, weshalb 923 Ordnungswidrigkeitenverfahren eingeleitet worden seien, heißt es in der Auskunft der Regierung. 511 Anzeigen habe es wegen Verspätungen gegeben (258 Ordnungswidrigkeitenverfahren), 150 Anzeigen wegen Nichtbeförderung (30 Ordnungswidrigkeitenverfahren). Insgesamt seien im Jahr 2020 413 Ordnungswidrigkeitenverfahren mit Bezug auf die EU-Fluggastrechte-Verordnung gegen deutsche Luftfahrtunternehmen, 688 Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen EU-registrierte Luftfahrtunternehmen und 112 Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen Luftfahrtunternehmen aus Nicht-EU-Staaten eingeleitet worden.
Wegen dieses offenbaren Missstands will jetzt auch die EU-Kommission mehr Druck auf die Fluglinien machen. Sie hat dabei insb. die vielen Streitfälle, die wegen der Corona-Pandemie im vergangenen Jahr aufgetreten sind, im Blick. Wessen Flug in der Corona-Pandemie annulliert wurde, soll nach Ansicht der Brüsseler Behörde deutlich leichter an sein Geld kommen als bisher. Sie veröffentlichte im Juni eine Liste mit entsprechenden Forderungen an die Fluggesellschaften. Darin werden diese u.a. aufgefordert, Rückerstattungen in Form eines Gutscheins nicht als einzige Wahl anzupreisen und Verzögerungen bei der Rückzahlung zu vermeiden. Außerdem erwägt die Kommission neue Regeln mit Blick auf kommende Krisen.
[Red.]