Der Zweite Senat bestätigt seine Rechtsprechung, dass auch eine Nebenpflichtverletzung, vorliegend die Pflicht zur amtsärztlichen Untersuchung, eine außerordentliche Kündigung wegen beharrlicher Arbeitsverweigerung begründen kann (BAG, Urt. v. 25.1.2018 – 2 AZR 382/17, NZA 2018, 845 zu § 5 Abs. 2 Manteltarifvertrag für die Beschäftigten der Mitglieder der TGAOK (BAT/AOK-Neu) vom 7.8.2003 i.d.F. vom 27.9.2012).
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung. Der Kläger ist schwerbehindert. Er war zum Zeitpunkt der Kündigung 50 Jahre alt und seit 18 Jahren bei der Beklagten beschäftigt. Nach einem auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Tarifvertrag war das Arbeitsverhältnis ordentlich nicht mehr kündbar. Der Tarifvertrag räumt dem Arbeitgeber aber das Recht ein, bei gegebener Veranlassung beim Gesundheitsamt durch eine amtsärztliche Untersuchung feststellen zu lassen, ob der Arbeitnehmer arbeitsfähig ist. Aufgrund der nur sehr geringen Arbeitsleistung des Klägers hatte die Beklagte Zweifel an dessen Arbeitsfähigkeit und beabsichtigte, diesen beim Gesundheitsamt auf seine Arbeitsfähigkeit untersuchen zu lassen. Nachdem der Kläger mehrfach und trotz zweier Abmahnungen nicht zu den Untersuchungsterminen erschienen war, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit Zustimmung des Integrationsamts außerordentlich und fristlos. Der Kläger ist der Ansicht, er sei nicht verpflichtet gewesen, an der Untersuchung seiner Arbeitsfähigkeit mitzuwirken.
Während das ArbG die Klage abwies, gab das LAG ihr statt. Die Arbeitgeberin habe eine amtsärztliche Untersuchung der Arbeitsfähigkeit jedenfalls deswegen (noch) nicht verlangen dürfen, weil sie zuvor ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX nicht durchgeführt hatte.
Die Revision der Arbeitgeberin hatte im Sinne der Zurückverweisung Erfolg. Entgegen der Auffassung des LAG könne der Arbeitgeber auch dann bei gegebener Veranlassung eine ärztliche Untersuchung zur Feststellung der Arbeitsfähigkeit des schwerbehinderten Klägers verlangen, wenn nicht zuvor ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchgeführt worden sei. Weder dem Wortlaut noch dem Sinn und Zweck der Tarifvorschrift könne ein solches Erfordernis entnommen werden. Das Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX und die tarifvertraglich geregelte Möglichkeit, bei gegebenem Anlass die Arbeitsfähigkeit amtsärztlich untersuchen zu lassen, stehen nach Ansicht des BAG nicht in einem Rangverhältnis zueinander. Die beharrliche Weigerung eines Arbeitnehmers, der tariflichen Verpflichtung entsprechend an der vertraglichen Nebenpflicht der Untersuchung seiner Arbeitsfähigkeit mitzuwirken, ist auf der ersten Stufe der Prüfung an sich geeignet, einen wichtigen Grund gem. § 626 Abs. 1 BGB zur außerordentlichen und fristlosen Kündigung darzustellen. Ob vorliegend ausreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorgelegen hätten, um Zweifel an der Arbeitsfähigkeit des Klägers haben zu dürfen, muss das LAG weiter aufklären.
Hinweise:
- Die Entscheidung folgt der bisherigen Rechtsprechung des BAG zum betrieblichen Eingliederungsmanagement (bEM) und zum Präventionsverfahren, die im Regelfall keine Tatbestandsvoraussetzung sind, wenn dies gesetzlich, tariflich oder arbeitsvertraglich nicht geregelt ist (vgl. zum Weisungsrecht: BAG, Urt. v. 18.10.2017 – 10 AZR 47/17, NZA 2018, 162).
- Aber: Hat der Arbeitgeber ein Präventionsverfahren entgegen § 84 Abs. 1 SGB IX a.F. (jetzt 167 Abs. 1 SGB IX) nicht durchgeführt, trifft ihn eine erhöhte Darlegungslast im Hinblick auf denkbare, gegenüber einer Beendigungskündigung mildere Mittel, um die zum Anlass für die Kündigung genommene Vertragsstörung zukünftig zu beseitigen (Rn 49). Die erhöhte Darlegungslast entfällt nicht deshalb, weil das Integrationsamt der Kündigung nach § 91 Abs. 4 SGB IX a.F. (jetzt § 174 Abs. 4 SGB IX) zugestimmt hat (Rn 52).
- Der Zweite Senat hat bereits zuvor den Verstoß gegen eine tarif- oder einzelvertragliche Nebenpflicht zur ärztlichen Untersuchung der Feststellung der Arbeitsfähigkeit als Kündigungsgrund angesehen (zu § 3 TV Nahverkehrsbetriebe Berlin: BAG, Urt. v. 27.9.2012 – 2 AZR 811/11, ZTR 2013, 265; zu § 7 Abs. 2 BAT: BAG, Urt. v. 7.11.2002 – 2 AZR 475/01, NZA 2003, 719 [B I 2 a]; zu § 59 Abs. 1 Unterabs. 2, § 7 Abs. 2 des Angestelltentarifvertrags der Deutschen Bundesbank [BBkAT] vom 11.7.1961: vgl. BAG, Urt. v. 6.11.1997 – 2 AZR 801/96, NZA 1998, 326 [II 3]; erstmalig, die Frage offen lassend noch: BAG, Urt. v. 23.2.1967 – 2 AZR 124/66, DB 1967, 150).
- Ist das Merkmal der "gegebenen Veranlassung" erfüllt, sind die tariflichen Voraussetzungen gegeben. Die rechtliche Grenze kann dann allenfalls noch in § 242 BGB liegen, mithin bei Schikane oder Willkür.
- Im Arbeitgebermandat ist bei fehlender tarifvertraglicher Befugnis eine arbeitsvertragliche Verpflichtung des Arbeitnehmers zulässig, Zweifel an der Arbeitsfähigkeit durch eine ärztliche Untersuchung klären zu lassen.
- Die Untersuchung muss nicht durch einen Amtsarzt erfolgen. S...