Bayerisches Verfassungsschutzgesetz in weiten Teilen verfassungswidrig
Entschieden hat das BVerfG lediglich über die Verfassungsgemäßheit des im Jahr 2016 in Kraft getretenen Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes (BayVSG). Die Entscheidung reicht jedoch weit über Bayern hinaus, denn bundesweit räumen die Verfassungsschutzgesetze der Länder den Verfassungsschutzbehörden weitgehend ähnliche Eingriffsbefugnisse ein wie das bayerische Gesetz. Damit dürften bundesweit Anpassungen der Verfassungsschutzgesetze der Länder erforderlich werden.
Verfassungsbeschwerde auf Initiative der „Gesellschaft für Freiheitsrechte“
Die Initiative zu dem verfassungsgerichtlichen Verfahren hatte die „Gesellschaft für Freiheitsrechte“ ergriffen. Drei Mitglieder dieser Vereinigung, die gleichzeitig der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“ (VVN-BdA) angehören, hatten darauf Verfassungsbeschwerde beim BVerfG eingereicht. Der VVN-BdA wird im bayerischen Verfassungsschutzbericht als „linksextremistisch beeinflusste Organisation“ eingestuft. Die Beschwerdeführer begründeten die Beschwerde u.a. mit der Befürchtung, sie selbst seien als Mitglieder des VVN-BdA möglicherweise überwachungsrechtlichen Maßnahmen ausgesetzt und würden damit in ihren Freiheitsrechten verletzt.
Behörden dürfen überwachen, aber nach klar definierten Regeln
Die Quintessenz der jetzigen Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts besteht in der Feststellung, dass der Verfassungsschutz grundsätzlich berechtigt ist, zum Schutz der Verfassung Überwachungsmaßnahmen durchzuführen und dabei in die Grundrechte der Bürger einzugreifen. Diese Eingriffe müssen jedoch an gesetzlich klar definierte, nach der Eingriffsintensität abgestufte Voraussetzungen gebunden sein.
BayVSG enthält zu wenig Grenzziehungen
Das BVerfG beanstandete in seiner aktuellen Entscheidung vor allem die häufig unverhältnismäßig weitreichenden Eingriffsbefugnisse der Behörden in die Grundrechte der Bürger bei
- der akustischen Wohnraumüberwachung,
- der Online-Durchsuchung,
- der Ortung von Mobiltelefonen,
- dem Einsatz von verdeckten Ermittlern und V-Leuten sowie
- bei längerfristigen Observationen.
BVerfG definiert die Maßstäbe für Überwachungsmaßnahmen
Das Gericht setzte klare Maßstäbe für die gesetzlich zu formulierenden Einsatzschwellen, für die Übermittlung von Daten an andere Behörden, insbesondere an die Polizei. In der mündlichen Urteilsbegründung erklärte der Vorsitzende und Präsident des BVerfG, Stephan Harbarth, die Verfassung lasse dem Gesetzgeber „substantiellen Raum, den sicherheitspolitischen Herausforderungen auch im Bereich des Verfassungsschutzes Rechnung zu tragen“, zugleich setze die Verfassung hierbei aber „gehaltvolle grundrechtliche Schranken“.
Klare Aufgabentrennung zwischen Verfassungsschutz und Polizei
Das Gericht legte besonderen Wert auf die Feststellung, dass für das Handeln von Verfassungsschutzbehörden andere Anforderungen als für das Handeln von Polizeibehörden gelten. So seien die Überwachungsbefugnisse einer Verfassungsschutzbehörde grundsätzlich nicht an das Vorliegen einer Gefahr im polizeilichen Sinne, sondern
- an das Erfordernis eines verfassungsschutzspezifischen Aufklärungsbedarfs gebunden.
- Dieser Aufklärungsbedarf müsse durch tatsächliche Anhaltspunkte gerechtfertigt sein.
- Die Übermittlung von Daten, die mit nachrichtendienstlichen Mitteln erhoben werden, sei ausnahmslos daran gebunden, dass sie dem Schutz eines besonders gewichtigen Rechtsgutes dient.
Informationelles Trennungsprinzip
Bei der Übermittlung an andere Behörden ist nach dem Urteil des BVerfG immer das Kriterium der hypothetischen Neuerhebung (informationelles Trennungsprinzip) zu beachten. Die Übermittlungsschwelle sei nach diesem Grundsatz nur dann erreicht, wenn auch die Behörde, an die die Daten übermittelt werden, hypothetisch zur Neuerhebung dieser Daten berechtigt wäre.
Besondere Voraussetzungen bei Auslandsübermittlung
Die gleichen Grundsätze gelten nach dem Urteil des Gerichts auch für die Übermittlung von Daten ins Ausland. Darüber hinaus setze die Übermittlung ins Ausland voraus, dass datenschutzrechtlich ein angemessener und mit elementaren Menschenrechtsgewährleistungen vereinbarer Umgang mit den übermittelten Informationen im Empfängerstaat gewährleistet sei.
Die Beanstandungen im Einzelnen:
Wohnraumüberwachung
Die in Art. 9 Abs. 1 Satz 1 BayVSG geregelte Überwachung von Wohnräumen enthält mit der hierfür erforderlichen „dringenden Gefahr“ nach der Bewertung des BVerfG zwar eine hinreichend bestimmte Eingriffsvoraussetzung, jedoch beanstanden die Richter das Fehlen einer Regelung, die die Subsidiarität gegenüber Gefahrenabwehrmaßnahmen der Gefahrenabwehrbehörden bestimmt. Schließlich fehlen nach Auffassung des BVerfG klare Regelungen zum verfassungsrechtlich erforderlichen Schutz des Kernbereichs des Grundrechts gemäß Art. 13 Abs. 4 GG bei der akustischen und optischen Wohnraumüberwachung sowohl auf der Erhebungs- als auch auf der Auswertungsebene.
Online-Durchsuchungen
Für die in Art. 10 Abs. 1 BayVSG geregelte Online-Durchsuchung fehlen ebenfalls Bestimmungen zum Kernbereichsschutz. Die Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme als besondere Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gebiete es, eine Online-Durchsuchung nur zur Abwehr einer mindestens konkretisierten Gefahr im polizeilichen Sinne zuzulassen. Außerdem kritisierte das Gericht eine Überschreitung des verfassungsrechtlich zulässigen Maßes vielgliedriger Verweisungsketten, die gegen das Gebot der Normenklarheit verstießen.
Mobilfunkortung
Die Ortung von Mobilfunkgeräten gemäß Art. 12 Abs. 1 BayVSG ist nach Auffassung der Verfassungsrichter verfassungswidrig, weil sie im Rahmen lang andauernder Überwachungsmaßnahmen die Erstellung von Bewegungsprofilen ohne hinreichend bestimmte Eingriffsvoraussetzungen und ohne eine unabhängige Vorabkontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Behörde vorsieht.
V-Leute
Für den Einsatz von verdeckten Ermittlern und Vertrauensleuten gemäß Art. 18, 19 BayVSG sind die Eingriffsschwellen nicht klar genug definiert. Insbesondere hält das Gericht spezifische Anforderungen an die zulässige Dauer eines Einsatzes bzw. an das Verhältnis zwischen Dauer und steigender Gefährlichkeit der zu beobachtenden Bestrebungen sowie ebenfalls eine unabhängige Vorabkontrolle für erforderlich. Das Gleiche gelte für Observationen außerhalb der Wohnung gemäß Art. 19a Abs.1 BayVSG.
Keine uneingeschränkte Informationsübermittlung durch das Landesamt
Das Gericht kritisierte das Fehlen klar definierter Voraussetzungen bei der Informationsübermittlung durch das Landesamt gemäß Art. 25 BayVSG. In diesem Zusammenhang sei auch die Benennung hinreichend gewichtiger Rechtsgüter erforderlich, die eine solche Maßnahme rechtfertigen.
Gesetzesanpassung bis zum 31.7.2023
Sämtliche beanstandeten Bestimmungen des BayVSG gelten nach der Entscheidung des Gerichts längstens bis zum Ablauf des 31.7.2023 fort. Bis dahin hat der bayerische Gesetzgeber Zeit, das Gesetz den vom BVerfG mit seinem Urteil gesetzten Maßstäben anzupassen.
Regelung zur Auskunft aus Vorratsdatenspeicherung ist nichtig
Eine Ausnahme gilt für Art. 15 Abs. 3 BayVSG, der die Auskunft über Verkehrsdaten aus der Vorratsdatenspeicherung regelt. Diese Vorschrift erklärte das Gericht für nichtig, da die Bestimmung zu unklar formuliert sei und zum Datenabruf ermächtige, ohne dass die betroffenen Diensteanbieter nach Bundesrecht zur Übermittlung dieser Daten an das Landesamt verpflichtet oder auch nur berechtigt wären.
Urteil mit bundesweiter Wirkung
Die Urteilsbegründung des BVerfG lässt klar erkennen, dass das höchste deutsche Gericht länderübergreifend Maßstäbe für die Befugnisse der Verfassungsschutzorgane in den einzelnen Bundesländern und auch im Bund aufstellen wollte. Damit dürfte sowohl in den Bundesländern als auch im Bund eine mehr oder weniger gründliche Überarbeitung der jeweiligen Verfassungsschutzgesetze ins Haus stehen.
(BVerfG, Urteil v. 26.04.2022, 1 BvR 1619/17)
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