Was überprüft das Berufungsgericht

Die Berufungsinstanz ist laut BGH eine zweite, wenn auch eingeschränkte Tatsacheninstanz. Gibt es aufgrund konkreter Anhaltspunkt Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit entscheidungserheblicher erstinstanzlicher Feststellungen, fordert der Grundsatz des rechtlichen Gehörs, diesen in der Berufung nachzugehen.

Im fraglichen Fall machte der Versicherer aus übergeleitetem Recht gegenüber der Beklagten Schadenersatzansprüche wegen eines Wasserschadens in einer Werkshalle geltend.

Wasserschaden mit 128.000 EUR teurem Folgeschäden

Der Wasserschaden war nach Ansicht der Klägerin aufgrund einer mangelhaften Verlegung eines Kühlwasserschlauchs an das Temperier-Gerät der RTM-Presse (RTM  = Resin Transfer Molding ist ein Verfahren zur Herstellung von Formteilen aus Duroplasten und Elastomeren). entstanden sein. Die Beklagte hatte diese Arbeiten ca. 2,5 Jahre zuvor durchgeführt.

Im April 2013 löste sich der Schlauch, weshalb erhebliche Mengen an Leitungswasser austrat, den Fertigungsbereich überschwemmte und die RTM-Presse beschädigte. Den Schaden bezifferte die Klägerin mit rund 128.000 EUR nebst Zinsen.

Klägerin konnte mangelhafte Leistung nicht beweisen, Berufung wurde abgewiesen, Revision nicht zugelassen 

Das Landgericht München I holte ein schriftliches Sachverständigengutachten zur Frage der Ursächlichkeit der Ablösung des Schlauchs ein und hörte den Sachverständigen in der Verhandlung persönlich an. Da die Klägerin nach Auffassung der ersten Instanz unter Zugrundelegung des Gutachtens die mangelhafte Leistung der Beklagten beim Anschluss des Schlauchs nicht beweisen konnte, wies das Gericht die Klage ab. Die hiergegen eingelegte Berufung der Klägerin wies das OLG München zurück. Eine Revision wurde nicht zugelassen. Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin hin hob der BGH den Beschluss des OLG auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.

Berufungsinstanz sieht keine Rechtfehler

Das Berufungsgericht führte in seiner Begründung aus, dass die Berufungsinstanz primär der Rechtsfehlerkontrolle diene. Sei die erstinstanzliche Tatsachenfeststellung bzw. Beweiswürdigung als solche rechtsfehlerfrei, so könne dies in der Berufungsinstanz grundsätzlich nicht mit Erfolg angegriffen werden, so das OLG.

Der BGH sah das anders: Mit dieser Begründung habe das Berufungsgericht den grundrechtlichen Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs in entscheidungserheblicher Weise verletzt, so die Karlsruher Richter. Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Berücksichtigt das Gericht – wie vorliegend – den Vortrag in der Berufungsbegründung nur eingeschränkt, verstößt es damit gegen Art. 103 Abs.1 GG.

BGH: Berufungsgericht verkennt Prüfungsmaßstab grundlegend

Das Berufungsgericht habe in vorliegendem Fall den Prüfungsmaßstab des § 529 Abs.1 Nr.1 ZPO grundlegend verkannt und eine eigene Beweiswürdigung unter Einbeziehung der Berufungsbegründung unterlassen. Zwar sei das Berufungsgericht grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen der ersten Instanz gebunden. Dies entfalle jedoch, wenn

„konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit entscheidungserheblicher Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten".

Diese konkreten Anhaltspunkte können sich dabei unter anderem aus dem Vortrag der Parteien ergeben. Zweifel im Sinne der oben genannten Vorschrift liegen dabei schon vor, wenn

„aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse - nicht notwendig überwiegende - Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben wird, sich also deren Unrichtigkeit herausstellt“,

so der BGH. Das Berufungsgericht hat somit die erstinstanzliche Überzeugungsbildung nicht nur auf Rechtsfehler zu überprüfen. Bei der Berufungsinstanz handelt es sich um eine zweite, wenn auch eingeschränkte Tatsacheninstanz. Deren Aufgabe sei die Gewinnung einer fehlerfreien und überzeugenden und damit richtigen Entscheidung des Einzelfalls.

(BGH, Beschluss v. 4.09.2019, VII ZR 69/17).




Hintergrund

Nach Art 103 Abs. 1 GG ist der Grundsatz rechtlichen Gehörs verfassungsrechtlich garantiert und für jedes gerichtliche Verfahren konstitutiv und unabdingbar. Eine Missachtung des rechtlichen Gehörs verletzt den Betroffenen in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 GG. Wird das rechtliche Gehör entscheidend verletzt, so hat der Betroffene die Möglichkeit, den Fortgang des Verfahrens mit Hilfe einer Gehörsrüge zu erreichen.


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