EuGH ermöglicht Kreditnehmern Widerruf noch viele Jahre nach Vertragsabschluss
Ausgelöst wurde die Entscheidung des EuGH durch eine Vorlage des LG Ravensburg, das den EuGH in diversen Verfahren um eine verbindliche Auslegung der EU-Verbraucher-Kreditrichtlinie gebeten hatte. Die konkreten Verfahren betrafen Autokredite der Volkswagen-Bank, der Skoda-Bank und der BMW-Bank. Die jeweiligen Bankkunden hatten die Verträge lange nach Ablauf der regulären Widerrufsfrist widerrufen mit der Begründung, dass die Verträge Unklarheiten bzw. Lücken aufwiesen, die es dem Verbraucher unmöglich machten, ihre vertraglichen Rechte in bestimmten Vertragssituationen richtig einzuschätzen. Dieser Einschätzung hat der EuGH nun recht gegeben. Unklare Regeln in Kreditverträgen können danach das Widerrufsrecht des Verbrauchers über Jahre perpetuieren.
Widerruf erfasst bei verbundenen Verträgen auch den Grundvertrag
Für die betroffenen Fahrzeugkäufer besteht nach der Entscheidung des EuGH die Möglichkeit, nicht nur den Kreditvertrag zu widerrufen, sondern auch von dem damit verbundenen Kaufvertrag über das jeweilige Kraftfahrzeug zurückzutreten. Dies dürfte für viele Kreditnehmer - nicht nur bei Autokäufen - von großem Interesse sein. Sie müssen im Fall des Widerrufs bzw. des Rücktritts zwar das Fahrzeug (oder den sonstigen Kaufgegenstand) zurückgeben und sich gezogene Nutzungen anrechnen lassen. Allein mit Blick auf Mehrwertsteuer und Händlermarge stehen nach Einschätzung von Kfz-Experten im Fall des Widerrufs aber mindestens Einspareffekte von 20-25 % bezogen auf den ursprünglichen Fahrzeugpreis zur Diskussion.
Widerrufsrecht bei Belehrungsfehler unter Vorbehalt des Rechtsmissbrauchs
Schon der BGH hatte Kreditnehmern im Fall einer fehlerhaften Widerrufsbelehrung langjährige Widerrufsrechte eingeräumt. Nach einem Urteil des BGH aus dem Jahr 2016 beginnt im Falle einer fehlerhaften Widerrufsbelehrung die Frist zur Erklärung des Widerrufs nicht zu laufen mit der Folge, dass der Widerruf auch nach Jahren noch möglich ist, selbst wenn der Kreditvertrag zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend abgewickelt wurde (BGH, Urteil v. 12.7.2016, XI ZR 564/15).
Einschränkend hatte der BGH bei besonders später Ausübung des Widerrufsrechts allerdings die Prüfung eines möglichen Rechtsmissbrauchs und einer Verwirkung des Widerrufsrechts ins Spiel gebracht. Die damit verbundene Interessenabwägung im Einzelfall hat die Einschätzung der Erfolgsaussichten eines Widerrufs für den Verbraucher deutlich erschwert.
EuGH geht weit über den BGH hinaus
Mit der jetzigen Entscheidung des EuGH wurde diese Rechtsprechung des BGH zugunsten der Verbraucher nun deutlich erweitert. Der EuGH knüpft in seiner Entscheidung das Recht des Verbrauchers zum Widerruf nicht allein an eine fehlerhafte Widerrufsbelehrung, sondern an insgesamt unklare Bestimmungen in den Kreditverträgen. Hiernach dürfen Kunden Kreditverträge auch noch nach Jahren widerrufen, wenn u.a.
- der Kreditvertrag keinen klar definierten Zinssatz für den Fall angibt, dass der Kunde mit seinen Zahlungsverpflichtungen in Verzug gerät,
- bei der Höhe der Zinssätze pauschal an den jeweils von der Zentralbank festgelegten Basiszinssatz anknüpft, den der Verbraucher nicht ohne weiteres kennt,
- die Berechnung der Höhe der Vorfälligkeitsentschädigung im Falle einer vorzeitigen Auflösung des Kreditvertrages nicht für den Durchschnittsverbraucher in leicht nachvollziehbarer Weise definiert.
Die EU-Verbraucherkreditrichtlinie erfordert nach der Entscheidung des EuGH zu all diesen Punkten klare Vorgaben in den geschlossenen Kreditverträgen.
Einwand des Rechtsmissbrauchs zieht nicht
Anders als der BGH lässt der EuGH auch nicht den Einwand des Rechtsmissbrauchs oder der Verwirkung des Widerrufsrechts bei einem Widerruf erst nach Jahren durch den Verbraucher gelten. Wenn eine nach EU-Recht erforderliche Angabe im Kreditvertrag fehlt, habe der Verbraucher das Recht, auch nach Jahren den Kreditvertrag noch zu widerrufen. Auf die subjektiven Motive des Kunden komme es dabei nicht an.
Entscheidung mit immensen Auswirkungen für die Kreditwirtschaft
Die Entscheidung des EuGH könnte eine explosive Wirkung für die Kreditwirtschaft haben. Nach Einschätzung von Verbraucherschützern, unter anderem den Experten der Stiftung Warentest, hält ein Großteil der derzeit in Deutschland im Umlauf befindlichen Verbraucherkreditverträge den Anforderungen, die der EuGH nun auf der Grundlage der EU-Verbraucherkreditrichtlinie aufgestellt hat, nicht stand. Mit Ausnahme von Immobilien-Kreditverträgen, die nicht Gegenstand des EuGH Urteils waren, stünde damit eine Vielzahl von Kreditverträgen, nicht nur im Kraftfahrzeugbereich, auf rechtlich unsicherer Grundlage und wäre mit einem Widerrufsrecht des Verbrauchers behaftet. Nicht selten könnte sich ein Widerruf und anschließender Neuabschluss (ggf. bei einer anderen Bank) allein aufgrund der derzeitigen günstigen Zinssätze lohnen.
(EuGH, Urteil v.9.9.2021, C-33/20, C-155/20 u. C-187/20)
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