Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialversicherungspflicht bzw -freiheit. Tätigkeit als hessischer Gemeindevertreter oder Stadtverordneter. keine abhängige Beschäftigung. Krankenversicherung der Rentner. Beitragsbemessung. Aufwandsentschädigung für ehrenamtliche Tätigkeit stellt im Regelfall keinen Gewinn aus selbständiger Tätigkeit dar. eigenständige Bewertung von Arbeitseinkommen durch Kranken- und Pflegekassen unabhängig der steuerrechtlichen Beurteilung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Tätigkeit hessischer Gemeindevertreter oder Stadtverordneter ist im Regelfall keine abhängige Beschäftigung im Sinne des Sozialrechts.
2. Die Aufwandsentschädigung für die ehrenamtliche Tätigkeit als Gemeindevertreter oder Stadtverordneter stellt im Regelfall auch keinen Gewinn aus selbständiger Tätigkeit dar.
3. Gesetzliche Kranken- und Pflegekassen dürfen bei der Beurteilung von Arbeitseinkommen nicht ungeprüft die steuerrechtliche Beurteilung durch die Finanzbehörden zugrunde legen, sondern haben eine eigenständige Bewertung vorzunehmen.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 24. Juli 2020 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch im Berufungsverfahren die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Sozialversicherungspflicht der Klägerin und Berufungsbeklagten in der Kranken- und Pflegeversicherung für ihre Tätigkeit als Stadtverordnete für den Zeitraum ab dem 1. Januar 2017.
Die Klägerin ist seit dem 1. Januar 2015 in der Krankenversicherung der Rentner bei der Beklagten und Berufungsklägerin Mitglied. Neben den Renteneinkünften erhält die Klägerin eine Aufwandsentschädigung für die ehrenamtliche Tätigkeit als Stadtverordnete von ca. 480 € pro Monat sowie eine Vergütung für die Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied bei einer kommunalen Gesellschaft. Im Einkommensteuerbescheid wird die Aufwandsentschädigung als „Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit - aus freiberuflicher Tätigkeit“ geführt.
Nachdem die Beklagte mit Bescheiden vom 7. Mai 2015 und 21. Dezember 2015, jeweils auch im Namen der Beigeladenen, wegen des Unterschreitens der Geringfügigkeitsgrenze zunächst von einer Beitragserhebung in Bezug auf die vorgenannten Einkünfte absah, setzte sie, nachdem sie von der Klägerin neuere Einkommensteuerbescheide vorgelegt bekam, mit Bescheid vom 1. Dezember 2016 Beiträge in der Kranken- und Pflegeversicherung, rückwirkend ab dem 1. November 2015, dergestalt fest, dass sie die oben genannten Einnahmen als Arbeitseinkommen der Beitragsberechnung zugrunde legte. Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin mit Schreiben vom 11. Dezember 2016 Widerspruch. Zur Begründung führte sie aus, ihre Tätigkeit als Stadtverordnete sei ein Ehrenamt und nicht sozialversicherungspflichtig.
Nachdem die Beklagte mit Bescheid vom 6. Januar 2017 die Beiträge aufgrund einer Erhöhung des anteiligen Pflegeversicherungsbeitrages ab 1. Januar 2017 insgesamt erhöhte, veränderte sie den Zeitpunkt der vorgenannten Änderung mit Bescheid vom 7. März 2017 auf den 1. Februar 2017. Mit Bescheid vom 7. August 2017 schließlich änderte sie die mit Bescheid vom 1. Dezember 2016 festgelegte generelle rückwirkende Erhebung von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen auf den (späteren) Beginnzeitpunkt des 1. Januar 2017 ab. Sie geht hierbei, bei einem zu berücksichtigenden monatlichen Einkommen der Klägerin in Höhe von 421 €, von einem monatlichen Beitrag in der Krankenversicherung nebst Zusatzbeitrag und der Pflegeversicherung in Höhe von insgesamt 75,57 € aus, ab Februar 2017 von insgesamt 76,42 €.
Mit Widerspruchsbescheid vom 27. September 2017 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung verweist die Beklagte auf den Einkommensteuerbescheid der Klägerin. Die Aufwandentschädigungen aus der Tätigkeit als Stadtverordnete seien in den Steuerbescheiden als steuerpflichtige Einkünfte aus selbständiger Arbeit ausgewiesen. In dem aktuellsten Steuerbescheid 2015 seien Einkünfte aus selbständige Arbeit in Höhe von insgesamt monatlich 421 € aufgeführt. Daher habe die Beklagte hieraus Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zu fordern. Die Beklagte fordere die Beiträge aus dem Arbeitseinkommen aus verfahrensrechtlichen Gründen erst ab dem 1. Januar 2017.
Dagegen hat die Klägerin am 17. Oktober 2017 Anfechtungsklage vor dem Sozialgericht Darmstadt erhoben und zur Begründung auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts verwiesen. Das Sozialgericht Darmstadt hat der Klage mit Urteil vom 24. Juli 2020 stattgegeben und die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, der Bescheid vom 1. Dezember 2016 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 7. August 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. September 2017 sei rechtswidrig und verletze die Klägerin in ihren Rechten. Bei der Aufwandsentschädigung der Klägerin als Stadtverordnete handele es sich nicht um Arbeitseinkommen gemäß § 237 Satz 1 Nr. 3 SGB V, das...