Erste Tätigkeitsstätte bei einem Fernstudium
Auffassung der Finanzverwaltung
Nach Tz. 34 des BMF-Schreibens v. 25.11.2020 (IV C 5 - S 2353/19/10011 :0006) liegt ein Vollzeitstudium oder eine vollzeitige Bildungsmaßnahme insbesondere vor, wenn der Steuerpflichtige im Studium oder in der Bildungsmaßnahme für einen Beruf ausgebildet wird und daneben entweder keiner Erwerbstätigkeit nachgeht oder während der gesamten Dauer des Studiums oder der Bildungsmaßnahme eine Erwerbstätigkeit mit durchschnittlich bis zu 20 Stunden regelmäßiger wöchentlicher Arbeitszeit oder in Form eines geringfügigen Beschäftigungsverhältnisses i. S. d. §§ 8 und 8a SGB IV ausübt.
Aktuelles Urteil des Niedersächsischen FG
In einem vom Niedersächsischen FG entschiedenen Fall ging der arbeitslose Kläger im Streitjahrkeiner Erwerbstätigkeit nach, absolvierte aber ein Studium in Teilzeit an einer Fernuniversität. In seiner Steuererklärung machte er Aufwendungen für Fahrtkosten zwischen seinem Wohnort und der Fernuniversität in Höhe von ca. 5.000 EUR als Werbungskosten geltend. Die Berechnung hatte er nach Reisekostengrundsätzen vorgenommen, also mit 0,30 EUR pro gefahrenem Kilometer.
Das Finanzamt vertrat jedoch die Auffassung, dass es sich bei der Fernuniversität um die erste Tätigkeitsstätte des Klägers handele, und hat im Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr die Fahrtkosten daher nur in Höhe der Entfernungspauschale berücksichtigt.
Hiergegen legte der Kläger Einspruch ein und vertrat die Auffassung, die Entfernungspauschale sei nicht anzuwenden, weil es sich bei dem Fernstudium nicht um eine vollzeitige Bildungsmaßnahme handele. Das Studium werde zu Hause und üblicherweise neben einer Berufstätigkeit ausgeübt und die Universität werde lediglich für Klausuren, zum Besuch der Bibliothek oder für Lerngemeinschaften mit Studienkollegen aufgesucht.
Argumentation des Klägers
Der Umstand, dass er, der Kläger, im Streitjahr arbeitslos gewesen sei, ändere an der steuerlichen Behandlung nichts. Das ergebe sich auch aus Tz. 33 des BMF-Schreibens v. 24.10.2014 (IV C 5 - S 2353/14/10002). Der "Hauptpunkt des Studiums" habe sich in seiner Wohnung befunden. Zur Universität sei er lediglich 29-mal, also weniger als einmal pro Woche, gefahren.
Finanzamt: Bezeichung "Teilzeitstudium" irrelevant
Das Finanzamt hat den Einspruch als unbegründet zurückgewiesen, da die Fernuniversität in Hagen die erste Tätigkeitsstätte des Klägers i.S. des § 9 Abs. 4 EStG gewesen sei, sodass die Fahrten nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG mit der Entfernungspauschale abgegolten seien.
Nach § 9 Abs. 4 Satz 8 EStG gelte als erste Tätigkeitsstätte auch eine Bildungseinrichtung, die außerhalb eines Dienstverhältnisses zum Zwecke eines Vollzeitstudiums oder einer vollzeitigen Bildungsmaßnahme aufgesucht werde. Gemäß Tz. 34 des BMF-Schreibens v. 25.11.2020 (IV C 5 - S 2353/19/10011 :006) liege ein Vollzeitstudium oder eine vollzeitige Bildungsmaßnahme insbesondere dann vor, wenn der Steuerpflichtige im Rahmen des Studiums oder im Rahmen der Bildungsmaßnahme für einen Beruf ausgebildet werde und daneben keiner Erwerbstätigkeit nachgehe.
Im Streitfall seien diese Voraussetzungen erfüllt. Es sei dabei irrelevant, dass die Fernuniversität in Hagen das Studium als "Teilzeitstudium" bezeichne. Auch sei es unerheblich, ob das Studium als Erstausbildung oder als Fortbildung betrieben werden. Jedenfalls stelle es eine Berufsausbildung dar, weil es zu einem Abschluss führe. Der Kläger sei in dem Zeitraum des Studiums arbeitslos und damit nicht erwerbstätig gewesen.
Entscheidung des Niedersächsischen FG
Nach Auffassung des FG ist die Fernuniversität nicht die erste Tätigkeitsstätte (Niedersächsischen FG Urteil vom 16.02.2022 - 4 K 113/20). Für die Anwendung der Entfernungspauschale verlange § 9 Abs. 4 Satz 8 EStG ein Vollzeitstudium oder eine vollzeitige Bildungsmaßnahme. Dafür sei ein zeitlicher Umfang von etwa 40 Stunden wöchentlich kennzeichnend.
Der Kläger sei an der Fernuniversität in Hagen ausdrücklich nur für ein Teilzeitstudium eingeschrieben gewesen, das nach der eigenen Beschreibung der Fernuniversität "in einem zeitlichen Umfang von etwa 20 Stunden wöchentlich" stattfinde. Er habe die Fernuniversität daher gerade nicht für ein Vollzeitstudium aufgesucht, dass dort "in einem zeitlichen Umfang von etwa 40 Stunden wöchentlich" ebenfalls angeboten werde.
Der Wortlaut des § 9 Abs. 4 Satz 8 EStG verlange für die Anwendung der Entfernungspauschale ein "Vollzeitstudium oder eine vollzeitige Bildungsmaßnahme", die im Streitfall jedenfalls nach der eigenen Abgrenzung der Fernuniversität in Hagen nicht gegeben gewesen sei. Nach der Definition des BFH liege eine vollzeitige Bildungsmaßnahme dagegen "in Abgrenzung zu einer nur in Teilzeit durchgeführten Maßnahme vor, wenn die berufliche Fort- oder Ausbildung typischerweise darauf ausgerichtet sei, dass sich der Steuerpflichtige ihr zeitlich vollumfänglich widmen muss und die Lerninhalte vermittelnden Veranstaltungen jederzeit besuchen könne" (BFH Urteil vom 14.05.2020 - VI R 24/18). Danach liege im Streitfall keine vollzeitige Bildungsmaßnahme vor, weil das Teilzeitstudium des Klägers gerade nicht darauf ausgerichtet gewesen sei, dass sich der Kläger vollumfänglich dem Studium habe widmen müssen.
Vielmehr sei das Teilzeitstudium nach der eigenen Beschreibung der Fernuniversität gerade zur Ausübung neben einer Berufstätigkeit angelegt. Das Verständnis des BMF, wonach bei einem Studium oder einer Bildungsmaßnahme im Falle einer Erwerbslosigkeit stets ein Vollzeitstudium oder eine vollzeitige Bildungsmaßnahme gegeben sei, lasse sich aus § 9 Abs. 4 Satz 8 EStG nicht herleiten. Die steuerliche Berücksichtigung der Fahrtkosten des Klägers sei daher nicht auf Entfernungspauschale zu beschränken.
Das gelte unabhängig davon, ob der Kläger die Fahrten zu der Fernuniversität in Hagen selbst oder zu privaten Arbeitsgemein-schaften in Wohnungen von Kommilitoninnen und Kommilitonen getätigt habe. Bei Letzteren sei die Beschränkung auf die Entfernungspauschale schon deshalb nicht einschlägig, weil es sich nicht um Bildungseinrichtungen handele.
Revisionsverfahren beim BFH anhängig
Das FG hat die Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen, weil es entgegen der vom BMF aufgestellten Abgrenzungskriterien entschieden hat Az. beim BFH VI R 7/22). In vergleichbaren Fällen sollten Betroffene gegen die ablehnenden Bescheide der Finanzämter Einspruch einlegen. Die Einsprüche ruhen dann nach § 363 Abs. 2 AO kraft Gesetzes bis zur Entscheidung durch den BFH.
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