Unterstützung von Angehörigen im Ausland
Hintergrund
Die Tochter (T) bezog in 2008 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Sie unterstützte ihre geschiedene und vermögenslos allein in Russland lebende 60-jährige Mutter (M) mit umgerechnet 2.500 EUR. M wiederum unterstützte ihre eigene, 82-jährige verwitwete Mutter, die Großmutter (G) der T. Diese lebte allein in der Ukraine und benötigte seit einem Schlaganfall eine lebenslange Pflege, die an drei Werktagen pro Woche von einem ambulanten Pflegedienst und an den übrigen Tagen von den Nachbarn auf freiwilliger Basis übernommen wurde. Dabei kam es immer wieder zu unerwarteten Engpässen. In solchen Fällen reiste T kurzfristig in die Ukraine (Entfernung zwei Flugstunden), um die Pflege der G zu übernehmen. In 2008 kam dies zwei Mal (für vier bzw. sechs Wochen) vor. Die Aufenthaltsdauer für M war in der Ukraine auf maximal 90 Tage pro Halbjahr beschränkt.
Das FA berücksichtigte die Unterhaltszahlungen nicht, da im Ausland lebende Personen im erwerbsfähigen Alter bis 65 Jahre grundsätzlich eine Erwerbsobliegenheit treffe. Anders entscheid das FG. Es gab der Klage im Wesentlichen statt. Denn M habe wegen des unverzichtbaren Einsatzes für G ständig "auf Abruf" gestanden. In dieser Lage sei ein Arbeitgeber angesichts des Alters der M nicht bereit gewesen, M auch nur für Gelegenheitsarbeiten einzustellen.
Entscheidung
Der BFH bekräftigt zunächst, dass die gesetzliche Unterhaltsberechtigung i.S. des § 33a Abs. 1 EStG an die zivilrechtlichen Voraussetzungen - Anspruchsgrundlage, Bedürftigkeit, Leistungsfähigkeit - anknüpft. Dabei kann nach der neueren Rechtsprechung die Bedürftigkeit nicht typisierend unterstellt werden, sondern ist konkret festzustellen (BFH v. 5.5.2010, VI R 29/09, BStBl II 2011, 116). Bedürftig ist nur, wer außerstande ist, sich selbst zu unterhalten (§ 1602 BGB). Bei volljährigen Personen ist dies nur dann der Fall, wenn diese weder Einkünfte aus einer Erwerbstätigkeit erzielen noch Vermögen haben. Mögliche Einkünfte aus einer unterlassenen Erwerbstätigkeit stehen der Bedürftigkeit entgegen, sofern eine Erwerbstätigkeit zumutbar ist.
Der BFH widerspricht der Auffassung des FG, dass das "jederzeitige Bereitstehen" für einen eventuellen Pflegeeinsatz die generelle Erwerbsobliegenheit einer im erwerbsfähigen Alter stehenden Person entfallen lässt. Als Ausnahmen von der generellen Erwerbsobliegenheit wurden vom BFH Fälle wie Krankheit, Behinderung oder Arbeitslosigkeit trotz ordnungsgemäßer Bemühungen anerkannt (BFH v. 5.5.2010, VI R 29/09, BStBl II 2011, 116). Damit ist - so der BFH - die Notwendigkeit des "Einspringens" bei der Pflege eines behinderten Angehörigen nicht vergleichbar. Denn die "Pflege auf Abruf" ist ein Umstand, der nicht unmittelbar in der unterhaltenen Person begründet ist, sondern die Situation eines Dritten oder Drittinteressen betrifft. Nur tatsächliche Hinderungsgründe können einer Erwerbstätigkeit entgegenstehen, nicht dagegen Umstände, die nur möglicherweise eintreten werden. Eine "Vorwirkung" einer in Zukunft möglicherweise eintretenden Pflegesituation ist daher nicht zu berücksichtigen.
Als entscheidend für den Streitfall stellt der BFH heraus, dass Arbeitslosigkeit nur dann eine Bedürftigkeit begründet, wenn eine Beschäftigung trotz ordnungsgemäßer Bemühungen nicht gefunden wurde. Die Bemühungen um eine Beschäftigung sind substantiiert darzulegen. Zu entsprechenden Bemühungen der M hat das FG jedoch keine Feststellungen getroffen. Der BFH verwies den Fall daher an das FG zurück. Dieses hat unter Heranziehung der Beteiligten die erforderliche Sachaufklärung zu eventuellen Beschäftigungsbemühungen der M nachzuholen.
Hinweis
Dem BFH ist darin zuzustimmen, dass aus Gründen der Praktikabilität und Missbrauchsabwehr inländische Maßstäbe gelten und hinsichtlich der Erwerbsobliegenheit beim Verwandtenunterhalt strenge Anforderungen zu stellen sind. Deshalb kann zwar die Notwendigkeit, einen Angehörigen pflegen zu müssen, nicht aber das bloße Bereitstehen für einen eventuellen Pflegeeinsatz einen Verhinderungsgrund für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit darstellen. Allerdings dürfen hier die Umstände des Einzelfalls nicht vernachlässigt werden. Je häufiger der "Notfall" - das Einspringen für die ansonsten tätigen Pflegekräfte - eintritt, desto weniger dürfte es dem unterstützten Angehörigen zumutbar sein, jede Chance einer Erwerbstätigkeit wahrzunehmen. In der Praxis dürfte es darauf ankommen, ob der Arbeitsmarkt für die unterstützte Person trotz ihrer Eingebundenheit in die Pflegeverpflichtung überhaupt eine Beschäftigungsmöglichkeit bietet. Fehlt es daran nachweislich, ist die unterstützte Person auch bei fehlenden Bemühungen um eine Erwerbstätigkeit unterhaltsbedürftig. Im Grunde geht das FG von dieser Sachlage aus. Denn es hält es "bei lebensnaher Betrachtung" für ausgeschlossen, dass ein Arbeitgeber bereit wäre, eine Person, die ständig auf Abruf steht, auch nur für Gelegenheitsarbeiten einzustellen. Der BFH hält diese Aussage allerdings für nicht tragend. Er verlangt vom FG vielmehr die konkrete Feststellung, ob sich M um eine Erwerbstätigkeit bemüht hat. Können die erzielbaren Einkünfte, insbesondere im Falle unzureichender Erwerbsbemühungen, nicht ermittelt werden, kommt eine Schätzung der (fiktiven) Einkünfte in Betracht.
Die Entscheidung entspricht im Wesentlichen der Verwaltungsregelung in dem BMF-Schreiben v. 7.6.2010, BStBl I 2010 S. 588, Rz. 8 und 9. Die Fälle fehlender Erwerbsobliegenheit (Alter, Behinderung usw., auch Pflege behinderter Angehöriger) sind nur beispielhaft angeführt. Der BFH präzisiert, dass stets die Umstände des Einzelfalles zu würdigen sind.
BFH, Urteil v. 15.4.2015, VI R 5/14, veröffentlicht am 7.10.2015
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