Rückwirkende Anwendung des § 40a Abs. 1 Satz 2 KAGG verfassungswidrig?
Hintergrund: Rückwirkende Hinzurechnung negativer Aktiengewinne
Streitig ist die außerbilanzielle Hinzurechnung negativer Aktiengewinne einer Kapitalanlagegesellschaft in 2003.
Der Versicherungsverein a.G. (V) veräußerte in 2003 Anteilscheine an Spezialfonds und erzielte hieraus Buchgewinne (sog. negative Aktiengewinne). V erklärte diese Gewinne nach der damaligen Rechtslage als steuerfrei. Das FA rechnete dagegen die Gewinne dem zu versteuernden Einkommen hinzu. Es bezog sich auf § 40a des Gesetzes über Kapitalanlagegesellschaften (KAAG) i.d.F. des sog. Korb II Gesetzes v. 22.12.2003 (BGBl I 2003, 2840). § 40a Abs. 1 Satz 2 KAAG verweist auf die Hinzurechnung nach § 8b Abs. 3 KStG. § 43 Abs. 18 KAAG (a.F.) ordnete die Rückwirkung des § 40 Abs. 1 Satz 2 KAAG und damit die steuerliche Unerheblichkeit von Gewinnminderungen mit Wirkung für alle nicht bestandskräftigen Festsetzungen an.
Die von V dagegen erhobene Klage wurde vom FG zurückgewiesen. Mit der dagegen eingelegten Revision wendet sich V gegen die rückwirkende Gesetzesanwendung.
Entscheidung: Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot
Der BFH hält § 43 Abs. 18 KAAG für verfassungswidrig. Die Regelung ist mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes unvereinbar und verstößt gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG), soweit Veräußerungen im Mai 2003 betroffen sind. Der BFH setzte daher das Revisionsverfahren aus und legte die Rückwirkungsproblematik dem BVerfG vor.
Fall unechter Rückwirkung
§ 43 Abs. 18 KAAG führt zu einer unechten Rückwirkung. Denn das Korb II-Gesetz wurde am 27.12.2003 im BGBl verkündet, seine belastenden Rechtsfolgen (Anwendung des § 8b Abs. 3 KStG) treten jedoch – unter Rückgriff auf einen bereits zuvor ins Werk gesetzten Sachverhalt (Veräußerung der Anteilscheine im Lauf des Jahres 2003) – erst im Zeitpunkt der Entstehung der KSt für 2003, also am 31.12.2003, ein.
Vertrauensschutz auch bei umstrittener Rechtslage
Vor dem Gesetzeserlass getätigte verbindliche Dispositionen des Steuerpflichtigen verdienen Vertrauensschutz. Schutzwürdiges Vertrauen ist nicht bereits deshalb zu verneinen, weil eine Rechtslage umstritten ist. Allein der Umstand einer offenen Auslegungsfrage bzw. die Möglichkeit einer belastenden Rechtsauslegung ist nicht vertrauenshindernd. Denn der Steuerpflichtige ist nicht "vorausschauend" gehalten, stets eine nachteilige Änderung der bestehenden Rechtslage zu antizipieren und sein Verhalten danach auszurichten. Vielmehr kann er darauf vertrauen, nicht ohne klare Rechtsgrundlage steuerlich belastet zu werden.
Kein Vertrauensschutz nach Wegfall des Vertrauenstatbestands
Für die Frage des Zeitpunkts ist der Gang des Gesetzgebungsverfahrens entscheidend. Nicht nur die Einbringung des Gesetzesvorhabens in den Bundestag, sondern bereits dessen Zuleitung zum Bundesrat kann vertrauenszerstörende Wirkung haben. Denn mit der Veröffentlichung eines ausformulierten Gesetzentwurfs als Beschlussvorlage haben Betroffene die Möglichkeit, sich auf die etwaige Gesetzesänderung einzustellen. Es ist ihnen zumutbar, bei zukünftigen Dispositionen darauf zu achten (BVerfG v. 10.4.2018, 1 BvR 1236/11, BStBl II 2018, 303), auch wenn der Gesetzentwurf bis zur Gesetzverkündung ein "rechtliches Nullum" darstellt.
Schutzwürdiges Vertrauen bis zur Veröffentlichung des Gesetzentwurfs
Hiervon ausgehend wurde im Streitfall ein schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand der Steuerrechtslage nicht beseitigt. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung wurde erst am 8.9.2003 in den Bundestag eingebracht. Der veröffentlichte Entwurf datiert vom 15.8.2003. Ab diesem Zeitpunkt sind mögliche künftige Gesetzesänderungen in konkreten Umrissen (ungeachtet der nicht prognostizierbaren Unwägbarkeiten im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens) allgemein vorhersehbar (BFH Urteil vom 06.06.2013 - I R 38/11, BStBl II 2014, 398). Für den davor liegenden Zeitraum (im Streitfall: Mai 2003) wurde durch diese Vorgänge im Gesetzgebungsverfahren das schutzwürdige Vertrauen des V in den Bestand der Steuerrechtslage nicht beseitigt.
Vorrang des Vertrauensschutzes vor dem Fiskalinteresse
Der Steuerpflichtige hat eine Enttäuschung seines Vertrauens in die bestehende Rechtslage nur hinzunehmen, soweit dies aufgrund besonderer öffentlicher Interessen unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt ist. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Die Gesamtabwägung zwischen dem enttäuschten Vertrauen einerseits und der Dringlichkeit der Rechtsänderung ergibt, dass das Vertrauen des V ("Bestandsinteresse") bezogen auf die Veräußerungen im Mai 2003 einen Vorrang vor dem aus fiskalischen Interessen möglichst rückwirkenden Änderungsinteresse des Gesetzgebers hat.
Hinweis: Vorrang des Vertrauensschutzes ist Frage des Einzelfalls
Der BFH hebt hervor, dass mit dieser Entscheidung vertrauensbezogenen Dispositionen des Steuerpflichtigen nicht durchgehend ein Vorrang zugewiesen wird. Der Gesetzgeber ist jedoch zur Wahrung eines berechtigten individuellen Vertrauensschutzinteresses gehalten, sein Änderungsinteresse grundsätzlich auf solche Dispositionen zu beschränken, die zeitlich nach der erkennbaren Initiative zur Änderung des Gesetzes unternommen wurden. Für den Streitfall wurde die Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers nicht unangemessen eingeschränkt.
In dem Parallelverfahren IV R 19/17 ist die Revision gegen das Urteil des FG Baden-Württemberg v. 29.11.2017, 4 K 3397/15 (EFG 2018, 401), anhängig.
BFH Beschluss vom 23.10.2019 - XI R 43/18 (veröffentlicht am 05.03.2020)
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