10 %-Geringfügigkeitsgrenze bei einer Praxisveräußerung

Eine tarifbegünstigte Veräußerung einer freiberuflichen Einzelpraxis nach § 18 Abs. 3 i. V. m. § 34 EStG setzt voraus, dass der Steuerpflichtige die wesentlichen vermögensmäßigen Grundlagen entgeltlich und definitiv auf einen anderen überträgt.

Hierzu muss der Veräußerer seine freiberufliche Tätigkeit in dem bisherigen örtlichen Wirkungskreis wenigstens für eine "gewisse" Zeit einstellen (BFH Urteil vom 21.08.2018 - VIII R 2/15). Unschädlich ist die Fortführung einer Resttätigkeit durch den Veräußerer, wenn die darauf entfallenden Umsätze in den letzten 3 Jahren weniger als 10 % der gesamten Einnahmen ausmachten (H 18.3 EStH 2018). Ist die 10 %-Grenze überschritten, wenn diese nur aufgrund der Hinzugewinnung von neuen Mandanten überschritten wird?

Ältere Auffassung der Finanzverwaltung

Die Finanzverwaltung hielt die Hinzugewinnung neuer Mandanten/Patienten innerhalb der "gewissen" Zeit (eine Zeitspanne von mehr als 3 Jahren ist nach ihrer Auffassung i.d.R. ausreichend) nach Praxissaufgabe - auch ohne Überschreiten der 10 %-Grenze - in jedem Fall für schädlich (BMF, Schreiben v. 28.7.2003, IV A 6 - S 2242 - 4/03; OFD Koblenz, Verfügung v. 15.12.2006). Die Steuer- bzw. Feststellungsbescheide sollten nach Verwaltungsauffassung im Fall vermeintlich schädlicher Tätigkeitsneuaufnahme nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO geändert werden.

BFH lehnt die Auffassung der Finanzverwaltung ab

Der BFH lehnt in einem Aussetzungsfall die Auffassung der Finanzverwaltung ab, dass die Hinzugewinnung neuer Mandate/Patienten innerhalb der "gewissen" Zeit nach Betriebsaufgabe auch ohne Überschreiten der 10 %-Grenze in jedem Fall – und damit ohne Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls – schädlich sei (BFH Beschluss vom 11.02.2020 - VIII B 131/19, u.a. unter Hinweis auf die genannten Literaturstellen). Wird die sog. Geringfügigkeitsgrenze nicht überschritten, schließt die Tatsache, dass der Steuerpflichtige im Rahmen dieser geringfügigen Tätigkeit auch neue Mandate betreut, das Vorliegen einer begünstigten Praxisveräußerung nicht automatisch aus.

Aktualisierung: Finanzverwaltung folgt der BFH-Rechtsprechung

Die Finanzverwaltung folgt nun der Rechtsprechung des BFH: "Wird nach Veräußerung oder Aufgabe einer freiberuflichen Praxis die bisherige Tätigkeit im gleichen örtlichen Wirkungskreis nur in geringem Umfang fortgeführt, ist dies für die Annahme einer begünstigten Veräußerung oder Aufgabe i.S.d. § 18 Abs. 3 i.V.m. § 34 Abs. 2 Nr. 1 EStG auch dann unschädlich, wenn dabei auch neue Mandate/Patienten hinzugewonnen bzw. betreut werden" (FM Schleswig-Holstein, ESt-Kurzinformation v. 15.6.2020, DStR 2020 S. 1739).


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