Offenbare Unrichtigkeit bei elektronisch übermittelten Besteuerungsgrundlagen
Nach § 129 AO kann das Finanzamt Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Steuerbescheids unterlaufen sind, jederzeit berichtigen. Ähnliche offenbare Unrichtigkeiten sind rein mechanische Versehen wie Eingabe- oder Übertragungsfehler, bei denen die Möglichkeit eines Rechtsirrtums ausgeschlossen ist. Fehler bei der Auslegung einer Rechtsnorm oder mangelnde Sachverhaltsaufklärung schließen dagegen eine Berichtigung aus.
Das sagen die Finanzgerichte bei elektronisch übermitteltem Arbeitslohn
- Schon in 2011 hat das FG Münster (Urteil v. 24.02.2011, 11 K 4239/07 E, Haufe Index 2721228) entschieden, dass ein Steuerbescheid infolge einer einem Schreib- oder Rechenfehler ähnlichen offenbaren Unrichtigkeit berichtigt werden kann, wenn ein Sachbearbeiter im Vertrauen auf ihre Richtigkeit ungeprüft fehlerhaft vom Arbeitgeber die elektronisch übermittelte Lohnsteuerdaten übernimmt, deren Unrichtigkeit ihm bei der Überprüfung der Angaben in der Steuererklärung aufgefallen wäre.
- Auch das FG Düsseldorf (Urteil v. 24.03.2015, 13 K 553/14 E) ist der Auffassung, dass von einer "ähnlichen offenbaren Unrichtigkeit ausgegangen werden kann, wenn die Übernahme eines elektronisch übermittelten Arbeitslohns in dem Glauben erfolgt, dass dieser dem erklärten Arbeitslohn entspricht, ohne einen Abgleich vorzunehmen. Ein solcher Fehler stehe der falschen Eintragung in einem Eingabewertbogen gleich und könne nach § 129 AO berichtigt werden.
Im Rahmen einer aktuellen Entscheidung hat das FG Düsseldorf (Urteil v. 11.10.2016, 10 K 1715/16 E, Haufe Index 9938070) wie folgt entschieden: Hat ein Steuerpflichtiger in seiner handschriftlich ausgefüllten Einkommensteuererklärung seinen aus 2 Arbeitsverhältnissen bezogenen Arbeitslohn in zutreffender Höhe eingetragen, das FA allerdings bei der elektronischen Erfassung der Steuererklärung zunächst nur den Arbeitslohn aus einem Arbeitsverhältnis (welcher nur elektronisch vorlag) berücksichtigt, kann es sich bei der Nichtberücksichtigung des Weiteren, aus einem anderen Bundesland stammenden Arbeitslohns um eine ähnliche offenbare Unrichtigkeit handeln.
Andere Finanzgerichte sind gegenteiliger Auffassung
- Entgegen der Entscheidung des FG Münster vom 24.11.2011 hat das FG Niedersachsen (Urteil v. 28.07.2014, 3 V 226/14, Haufe Index 7202853) die Auffassung vertreten, dass eine Berichtigung ausgeschlossen ist, wenn der Steuerpflichtige seine Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit in der elektronisch per Elster an das Finanzamt übermittelten Einkommensteuererklärung zutreffend erklärt hat, die Angaben in der von dem Arbeitgeber übermittelten elektronischen Lohnsteuerbescheinigung zu Gunsten des Steuerpflichtigen hiervon jedoch abweichen und das Finanzamt - trotz eines computergestützten Bearbeitungshinweises - die Einkommensteuer auf der Grundlage der - unzutreffenden - Lohnangaben des Arbeitgebers festsetzt.
- Eine offenbare Unrichtigkeit schließt auch das FG Köln (Urteil v. 14.03.2016, 5 K 1920/14, Haufe Index 10231899) aus, wenn eine Veranlagungsbeamtin im Vertrauen auf die Richtigkeit und Vollständigkeit der elektronisch durch den Arbeitgeber übermittelten Lohnsteuerdaten den Abgleich der Werte mit den entsprechenden Eintragungen in der Steuererklärung auf der Anlage zur nichtselbständigen Tätigkeit unterlässt. Damit nehme sie bewusst und gewollt in Kauf, dass ein unzutreffender Sachverhalt bei der Veranlagung berücksichtigt wird.
Praxis-Tipp: Revisionsverfahren anhängig
Gegen die Entscheidungen des FG Köln vom 14.3.2016 und des FG Düsseldorf vom 11.10.2016 laufen Revisionsverfahren vor dem BFH (Az. der Revision: VI R 41/16 und VI R 38/16). Vergleichbare Fälle sollten offen gehalten werden, bis der BFH entschieden hat. Mit Ausblick auf den Ausgang der Revisionsverfahren ist m. E. von Bedeutung, dass es an einem rein mechanischen Versehen des Sachbearbeiters dann fehlt, wenn die Sachbearbeiter einer Behörde aufgrund einer verwaltungsinternen oder behördeninternen Vorgabe oder aufgrund eines individuellen Willensentschlusses davon Abstand nehmen, trotz eines konkreten Anlasses Einblick in steuerlich erhebliche Unterlagen zu nehmen (so auch FG Münster, Urteil v. 21.07.2016, 9 K 2342/15 E, Haufe Index 9884568, in einem vergleichbaren Fall bei elektronisch übermittelten Rentendaten). Vielmehr stellt dies eine bewusste Entscheidung des Bearbeiters des Finanzamts dar, die eine Berichtigung nach § 129 AO ausschließt.
Noch hinzukommt, dass sich durch die Divergenz zwischen erklärten Werten durch den Steuerpflichtigen und den übermittelten Werten des Arbeitgebers und der ggf. zusätzlichen Ausgabe eines Bearbeitungshinweises Ermittlungen förmlich aufdrängen. Wenn das Finanzamt aber die Werte des Arbeitgebers ungeprüft übernimmt und damit aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen auf eine erforderliche Sachverhaltsaufklärung verzichtet, ist dieses Handeln m. E. der mangelnden Sachverhaltsermittlung zuzuordnen
Ergänzung v. 11.7.2017 zum Risikomanagement-System der Finanzverwaltung:
In diesem Zusammenhang ist auf ein aktuelles Urteil des FG Düsseldorf (v. 16.02.2017, 14 K 3554/14) hinzuweisen. Im zugrundliegenden Fall wurde eine Papiererklärung eingereicht, in welcher Einkünfte aus selbstständiger (Ehemann 128.641 EUR) und nichtselbstständiger Arbeit (Ehefrau 28.552 EUR) angegeben wurden. Die Erklärung wurde von der Zentralerfassung des Finanzamts "Schnellbearbeitung 5.000er" behandelt und gescannt. Nach der Erfassung ging im Veranlagungsbezirk eine Hinweismitteilung mit Prüf- und Risiko-Hinweisen ein. Diese beinhalteten u. a. einen Hinweis das der Ehemann/die Ehefrau Einkünfte von weniger als 4.200 EUR erzielt (Einkünfte Ehemann wurden beim Scannen nicht mitberücksichtigt) hat und in diesem Zusammenhang der Höchstbetrag für die sonstigen Vorsorgeaufwendungen (wegen einer eventuell vorliegenden Familienversicherung) zu prüfen ist. Auch wurde ein Risiko-Hinweis ausgegeben, weil kein Abgleich mit dem Vorjahr erfolgen konnte. Der Prüf-Hinweis wurde von der Bearbeiterin mit dem Vermerk "EM=Eink. § 18 EStG und die Risiko-Hinweise mit einem Haken abgearbeitet." Die Einkünfte des Ehemanns aus selbstständiger Tätigkeit fanden aber keine Berücksichtigung, sodass eine Einkommensteuererstattung von 22.202 EUR ausgezahlt wurde. Später änderte das Finanzamt nach § 129 AO.
Das FG kam zu dem Ergebnis, dass die Nichtberücksichtigung der Einkünfte aus selbständiger Arbeit einen offensichtlichen Erfassungsfehler darstellt. Eine andere Würdigung komme auch nicht aufgrund der Bearbeitung der Hinweismitteilung in Betracht. Diese rechtfertige nicht die Annahme einer mangelnden Sachverhaltsaufklärung, die nicht mehr auf einer bloßen Unachtsamkeit beruht. Nach Auffassung des FG hätte zwar eine sorgfältige Bearbeitung des Steuerfalls aufgrund der Prüf- und Risikohinweise -unabhängig von der Risikoklasseneinteilung der Finanzverwaltung – eine Überprüfung zwischen den erklärten Einkünften und den eingescannten Einkünften erfordert, weil dann bei einem Abgleich die Abweichung aufgefallen wäre. Da aber trotz der Prüfhinweise davon ausgegangen wurde, dass die selbständigen Einkünfte auch erfasst worden seien, beruhe die Nichtberücksichtigung der selbständigen Einkünfte nicht auf einem Rechtsanwendungsfehler aufgrund mangelhafter Sachverhaltsaufklärung, sondern letztlich auf einer oberflächlichen grob unachtsamen Bearbeitung des Steuerfalles. Die Annahme einer mangelnden Sachaufklärung wäre nach Auffassung des FG erst im Falle eines ausdrücklichen Hinweises auf im Vorjahr erfasste Einkünfte aus selbstständiger Arbeit oder auf die Höhe des Erstattungsbetrages gerechtfertigt (solche Hinweise lagen nicht vor).
Das FG hat die Revision im Hinblick auf die ungeklärten Fragen im Spannungsfeld zwischen der elektronischen Erfassung von Steuererklärungen sowie der administrativen Vorgaben durch das Risikomanagement-System der Finanzverwaltung einerseits und dem Amtsermittlungsgrundsatz nach § 88 AO sowie seiner Bedeutung im Rahmen des § 129 Satz 1 AO andererseits zugelassen (Az. des BFH: VIII R 4/17). Das FG hält eine höchstrichterliche Entscheidung zu der Frage für erforderlich, ob die durch das Risikomanagement vorgesehene Arbeitsweise, einer Anwendung des § 129 AO entgegensteht, wenn die Fehlerhaftigkeit der Festsetzung sich durch das Zusammenspiel verschiedener Prüfhinweise einem durchschnittlichen Sachbearbeiter geradezu aufdrängen muss. Es stelle sich die Frage, ob § 129 AO im Wege der Rechtsfortbildung im Hinblick auf den Sinn und Zweck der Regelung dahingehend auszulegen ist, dass eine bewusst billigende Inkaufnahme einer dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung widersprechenden Steuerfestsetzung den Anwendungsbereich des § 129 AO als Korrekturnorm jedenfalls dann ausschließt, wenn bei der Sachbearbeitung durch verwaltungsinterne Anweisungen eine Einzelfallprüfung mit dem Hinweis auf die Zuordnung eines Falles zu bestimmten Risikoklassen und das Massenverfahren untersagt ist.
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