Digitalisierung – Nachhaltigkeits-Chance oder notwendiges Übel?
Digitalisierung ist der größte Treiber von Veränderung in unserer Gesellschaft seit der Entdeckung des Feuers. Von den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung lassen sich bis zu 13 nur mit Einsatz digitaler Hilfsmittel erreichen. Eine E-Mail hat bis zu 50% des CO2-Fußabdrucks einer physischen Postkarte, leider senden wir jedoch viel mehr E-Mails als wir dadurch Postkarten einsparen.
Dies sind einige der Kernaussagen aus bisher 103 Interviews unter dem Titel „Software for Future“ aus unserem gleichnamigen Podcast. Wir wollen verstehen, wie wir das mächtigste Werkzeug unserer Zeit so einsetzen, dass wir damit die größte Krise unserer Zeit lösen, ohne dass dieses Werkzeug mehr Schaden als Nutzen anrichtet. In diesem Artikel wollen wir den Versuch eines Zwischenfazits aus mehr als 5 Jahren Podcast-Interviews wagen.
Digitalisierung
Bevor wir die komplexen Zusammenhänge zwischen den beiden großen Begriffen Digitalisierung und Nachhaltigkeit beleuchten, wollen wir jeden Begriff für sich umreißen.
Die Frage „Was ist Digitalisierung“ ist so groß, dass es nicht die eine Antwort geben kann. Der erste Versuch einer Antwort beschreibt Digitalisierung als den neuesten Wechsel des Leitmediums. Im Verlauf der Entwicklung unserer Gesellschaften gab es mehrere Veränderungen im Leitmedium. Mit jeder dieser Veränderungen veränderten sich auch die Gesellschaften grundlegend. Mit der Entwicklung des gesprochenen Wortes wurden wir vom Affen zum Menschen. Mit der Entwicklung der Schrift konnten wir auf einmal Wissen über Generationen und größere Entfernungen transportieren. Mit der Erfindung des Buchdrucks wurde dieses Wissen für die breite Masse verfügbar gemacht. Und heute entwickeln wir uns aus der Gesellschaft des Buchdrucks zur digitalen Gesellschaft.
Gemein ist allen Leitmedien, dass sie zu enormen Umwälzungen geführt und die menschliche Kultur grundlegend verändert haben. Mit der oralen Sprache ist eine arbeitsteilige Gesellschaft entstanden, die sesshaft werden sowie Ackerbau und Viehzucht betreiben konnte. Die geschriebene Sprache hat zur Staatsbildung antiker Hochkulturen geführt und ohne den Buchdruck wäre die Industrialisierung nicht denkbar gewesen. Mit der Digitalisierung schließlich ist eine neue Informations-, Wissens- und Lerngesellschaft entstanden.
Ausgehend von einem Wandel aus einer Industrie- in eine Wissensgesellschaft, kann man Digitalisierung auf unterschiedliche Bereiche differenzieren. Ausgehend von der Aussage „Tomatensuppe lässt sich nicht digitalisieren“ lässt sich festhalten, dass sich nicht alle Produkte unserer Welt digital abbilden lassen. Dennoch lassen sich auch in klassischen Industrieunternehmen Prozesse digital abbilden und dadurch Effizienzgewinne erzielen, die ohne digitale Unterstützung an Grenzen stoßen. Und völlig unabhängig von Branche und Produkt lässt sich unsere Art der Zusammenarbeit digital völlig anders gestalten.
Teil jedes Digitalisierungsprozesses ist eine neue Form von Transparenz, da Daten entstehen und nutzbar werden. Mit Hilfe von emotionslosen Daten lassen sich Entscheidungen treffen, bei denen wir ohne Datengrundlage auf Erfahrungswissen oder reine Bauchgefühle angewiesen sind. Einige Branchen, wie z. B. die Werbebranche, sind in der digitalen Transformation bereits sehr weit fortgeschritten. In anderen Branchen, z. B. der Logistik gibt es noch große Verbesserungspotentiale zu erschließen.
Nachhaltigkeit
So wie es keine einfache und eindeutige Definition für den Begriff der Digitalisierung gibt, ist auch der Begriff der Nachhaltigkeit groß und auf vielerlei Weisen beschreibbar. Die Erklärung von Prof. Hensel-Börner von der HSBA, „Nachhaltigkeit bedeutet, bei allem was wir tun zu berücksichtigen, was es zu einem späteren Zeitpunkt, an einem anderen Ort für jemand anderen bedeuten kann“, bringt die Dimensionen Ökologie, Ökonomie und Soziales sehr gut auf den Punkt.
Wenn wir Digitalisierung als vierte industrielle Revolution beschreiben, kann man das Verständnis von Nachhaltigkeit im Verlauf der bisherigen Entwicklungssprünge betrachten. Jede bisherige industrielle Revolution war durch einen Wechsel in drei verschiedenen Bereichen gekennzeichnet. In allen Fällen haben sich der Primärenergieträger, das Mobilitätsmedium und das primäre Kommunikationsmedium verändert.
Im Rahmen der ersten Industriellen Revolution im 18. Jahrhundert hatten die Briten die geniale Idee, den damaligen Primärenergieträger Kohle auf ein Fortbewegungsmittel zu übertragen – nämlich den Zug. Dadurch war es möglich, eine Infrastruktur aufzubauen, mit der sie das gesamte Empire verwalten konnten. Zudem setzte mit dem Aufkommen des Schienenverkehrs auch eine Urbanisierung ein, weil immer mehr Menschen in die Städte ziehen wollten, um die neue Infrastruktur nutzen zu können. Als Kommunikationsmedium entwickelte sich die Tageszeitung, anhand derer nun nahezu jeder im gesamten britischen Empire binnen 48 Stunden die gleichen Informationen erhalten konnte. Das war die Voraussetzung dafür, dass eine Art kollektives politisches Bewusstsein der Gesellschaft entstehen konnte.
Während der zweiten Industriellen Revolution wurde Kohle als Primärenergieträger vom Erdöl abgelöst. Daraus folgte die Individualisierung des Privatverkehrs in Form des Autos. Diese Individualisierung hatte zur Folge, dass Menschen nun die Stadtzentren verlassen konnten und sich die Infrastruktur daraufhin erneut komplett wandelte. Als Kommunikationsmedium kam das Telefon auf, das es ermöglichte, dass zwei Personen in Echtzeit miteinander kommunizieren konnten, ohne sich dabei im selben Raum zu befinden.
Mit der dritten Industriellen Revolution beginnt das Versprechen der Nuklearenergie, das sich allerdings mit Tschernobyl jäh als Albtraum entpuppte. Zudem beginnt der internationale Luftverkehr, der den eigentlichen Startschuss der Globalisierung bildet. Als Kommunikationstechnologie trat ab Mitte der siebziger Jahre die E-Mail auf, mit der man fortan Datensätze zwischen zwei Personen in Echtzeit übertragen konnte.
In unserer aktuellen vierten Industriellen Revolution spielen die erneuerbaren Energien eine zunehmend wichtige Rolle. Sie legen auch den Grundstein für eine komplette Mobilitätswende. Und die Kommunikation betreffend, haben wir heute eine völlig andere, datenbasierte Infrastruktur als noch vor wenigen Jahrzehnten. Gemeinsam haben die genannten Industriellen Revolutionen eine Verdichtung von Raum und Zeit. Alles wird nicht nur immer schneller, sondern in gewisser Weise auch immer näher.
Digitalisierung und Nachhaltigkeit
Die bisher beschriebenen Ansätze zum Verständnis der Begriffe Digitalisierung und Nachhaltigkeit sollten eines verdeutlichen: Wir sprechen nicht über die nächste App, Bäume pflanzen oder eine CO2-Kompensation für meine Urlaubsreise. Wir sprechen über einen grundlegenden Wandel unserer Gesellschaft hin zu etwas ganz und gar Neuem. Es gab solche Veränderungen bereits mehrfach in der Vergangenheit und jedes Mal haben sich unsere Verständnisse von Arbeit, Mobilität, Wohnen und Kommunikation grundlegend verändert. Leider müssen wir feststellen, dass unser Umgang mit den natürlichen Ressourcen dabei nicht besonders sorgsam war. Der unbegrenzte Verbrauch von fossilen Rohstoffen hat uns über einen steigenden CO2 Anteil in der Atmosphäre zur Erderwärmung und damit einem menschengemachten Klimawandel geführt.
Der Zusammenhang zwischen Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt wurde häufig nach dem 3-Säulen-Modell beschrieben. Solange die natürlichen Ressourcen als unendlich angenommen und behandelt werden, wird dabei die Umwelt immer den Kürzeren ziehen.
Eine realistischere Sicht auf die drei Bereiche bietet das Vorrangmodell. Eine Wirtschaft ist nur möglich mit Menschen, daher basiert die Wirtschaft auf einer funktionierenden Gesellschaft. Und eine Gesellschaft braucht einen funktionierenden Lebensraum, also basiert die Gesellschaft auf einer funktionierenden Umwelt. Wenn wir also den Zusammenhang von Digitalisierung und Nachhaltigkeit untersuchen und nach einem Weg forschen, wie wir die Digitalisierung als Weg hin zu einer nachhaltig lebenswerten Welt nutzen können, müssen wir unter allen Umständen einen gesunden Umgang mit den natürlichen Ressourcen finden.
Keine Nachhaltigkeit ohne Digitalisierung – trotz Problemen
Mit den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung hat die UN ein Zielbild geschaffen, wie Ökologie, Ökonomie und Soziales in Einklang gebracht werden können. Laut Prof. Meinel vom Hasso-Plattner-Institut lassen sich 13 dieser Ziele nur mit Hilfe digitaler Hilfsmittel umsetzen. Im Wesentlichen brauchen wir digitale Abbildungen und belastbare Datengrundlagen, um den notwendigen Wandel zu erzielen und zu messen.
Es gibt zahlreiche anschauliche Beispiele, wie alte und alltägliche Probleme mit Hilfe von digitaler Technologie nachhaltig(er) gestaltet werden können. Vilisto hat zum Beispiel eine KI-basierte Heizungsregelung mit smarten Thermostaten entwickelt, die Energieverbrauch beim Heizen um bis zu 30% reduziert, ohne dass für die Menschen in den Räumen Einbußen an Komfort oder Mehraufwand bei der Nutzung entstehen. Smart Steel Technologies wendet künstliche Intelligenz auf die Stahlindustrie an und schafft damit bis zu 100% Recycling-Quote in den Prozessen, bei gleichbleibender Qualität.
Gleichzeitig verursacht die globale IT-Infrastruktur mit all ihren Servern, Netzwerken und Endgeräten einen CO2-Fußabdruck, der doppelt so hoch ist, wie der globale Flugverkehr. Allein das Bitcoin-Netzwerk hat einen globalen Stromverbrauch, der den einiger EU-Staaten übersteigt. Neben dem reinen Stromverbrauch enthält die verwendete Hardware seltene Erden und weitere Rohstoffe.
Seit Jahren sinkt die durchschnittliche Nutzungsdauer von Hardware kontinuierlich. Das ist ein Problem, da bis zu 75% der Emissionen eines Gerätes im Produktlebenszyklus während der Produktion entstehen. Um zu einer nachhaltig digitalen Welt zu gelangen, müssen wir sowohl den Energieverbrauch der Technik an sich reduzieren und optimieren, als auch die Nutzung der Hardware so lange wie möglich gestalten. Firmen wie TechBuyer oder AfB liefern hier mit Ansätzen zur Circular Economy starke Ansätze.
Fazit: Energiewende geht nur mit Digitalisierung
Die Klimakrise ist primär eine Energiekrise. Ohne einen vollständigen Umstieg auf erneuerbare Energien werden wir diese Krise nicht lösen. Um diesen Umstieg unserer primären Energiequelle zu lösen, brauchen wir digitale Hilfsmittel. Bei jeder vergleichbaren Veränderung in der Vergangenheit wurden die neuen Werkzeuge auch genutzt, um den Primär-Energieträger zu wechseln.
Digitalisierung liefert uns genau die Daten, die wir zur Transformation von Produkten, Prozessen und unserer Zusammenarbeit brauchen. Ohne Daten sind wir auf Erfahrung und Bauchgefühl angewiesen.
Unsere digitale Welt verursacht einen eigenen, signifikanten CO2-Fußabdruck. Während wir die Energie über kurz oder lang auf Wind- und Solarstrom umbauen können, sind die physischen Ressourcen dennoch endlich. Es liegt also an uns allen, mit diesen Ressourcen verantwortungsvoll umzugehen.
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