Arbeitsrecht lässt viele Zukunftsfragen offen
Beim Blick zurück in das Jahr 1999 landet man in der Zeit kurz nach der Wahl der ersten rot-grünen Regierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder. Diese Phase war zunächst durch einen massiven Ausbau arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften geprägt. Das schnell verabschiedete sogenannte arbeits- und sozialrechtliche Korrekturgesetz hatte sich gerade die Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit zum Ziel gesetzt, faktisch wirkte es als Gesetz zur Bekämpfung der Selbstständigkeit. Wohl selten hat sich eine Reform für den Arbeitsmarkt derart katastrophal ausgewirkt, dass sich der Gesetzgeber schon nach kurzer Zeit das vollständige Scheitern eingestehen und die Änderungen rückgängig machen musste.
Tief greifend: AGB-Kontrolle durch Reform des Schuldrechts
Da die Rechtsprechung den Arbeitnehmer als "Verbraucher" einstuft, unterliegt de facto jeder Arbeitsvertrag der strengen AGB-Kontrolle. Sie macht selbst vor Anstellungsverträgen der Geschäftsführer nicht halt. Man kann diese Entwicklung mit dem überwiegenden Teil der Arbeitsrechtswissenschaft begrüßen. Sicherlich ist es grundsätzlich positiv, dass nunmehr in diesem Bereich sorgfältiger gearbeitet wird und mehr Wert auf klare und transparente Vertragsklauseln gelegt wird. Ob die Verschärfungen letztlich zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen geführt haben, kann man indes bezweifeln. Nicht zu übersehen ist, dass mit der Abkehr von der Vertragsfreiheit auch ein Stück der notwendigen Flexibilität im Arbeitsvertragsrecht verloren gegangen ist, die erst den strengen Bestandschutz des deutschen Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) rechtfertigen kann.
Denn im Grundsatz gilt: Da Beendigungskündigungen nur unter engen Voraussetzungen zulässig sind und eine Änderungskündigung bei materiellen Arbeitsbedingungen gar nur bei drohender Insolvenz in Betracht kommt, bedarf es dringend einer gewissen "Binnenbeweglichkeit" im Arbeitsverhältnis. Die notwendige Anpassung des Arbeitsvertrags an geänderte wirtschaftliche Rahmenbedingungen muss möglich bleiben. Hier liegt der eigentliche Kern des Problems einer strengen Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen.
Auch die restriktive Rechtsprechung zur Vereinbarung von Freiwilligkeits- und Widerrufsvorbehalten bei Gratifikationen wirkt insoweit kontraproduktiv, als sie die Anreize für übertarifliche Leistungen reduziert. Nach den jüngsten Tendenzen in der Rechtsprechung ist zu befürchten, dass ein Widerruf von übertariflichen Sonderzuwendungen künftig nur noch dann möglich ist, wenn der Widerrufsgrund nicht nur in allgemeiner Form (zum Beispiel "aus wirtschaftlichen Gründen") umschrieben, sondern konkret definiert wird.
Bekannt und überschätzt: Die Agenda 2010
Der nächste Meilenstein in arbeitsrechtlicher Hinsicht war die auch international berühmte Agenda 2010. Sieht man sich die arbeitsrechtlichen Änderungen der Agenda genauer an, zeigt sich, dass die Bedeutung der Reform weit überschätzt wird – zumal ein Großteil der Reform längst zurückgenommen wurde. Deutschland galt in den 1990er-Jahren als der "kranke Mann in Europa": Hohe Arbeitslosigkeitszahlen, die Folgen der Wiedervereinigung und hohe Haushaltsdefizite trübten die Stimmung. Vor diesem Hintergrund nehmen sich die Änderungen bescheiden aus.
Zwar schuf die Anhebung des Schwellenwerts für das Eingreifen des KSchG auf mehr als zehn Arbeitnehmer für kleinere Betriebe – insbesondere Handwerksbetriebe sowie die Sozietäten und Praxen der freien Berufe – sachgerechte Anreize, um neue Arbeitnehmer einzustellen. Diese Änderung ist bis heute rechtspolitisch unumstritten und Fehlentwicklungen sind nicht bekannt geworden. Dagegen gab es die im Kontext der Agenda 2010 häufig erwähnten Erleichterungen im Befristungsrecht schon seit den Beschäftigungsförderungsgesetzen der Kohl-Regierung – auch die Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung einer Beschäftigung von bis zu zwei Jahren. Die Agenda 2010 hat diese Möglichkeiten lediglich ausgeweitet, etwa für Existenzgründer, denen Befristungen von bis zu vier Jahren erlaubt wurden.
Die wohl umstrittenste arbeitsmarktpolitische Reformmaßnahme der Agenda war die massive Förderung der Leiharbeit. Sie hat nach den rechtstatsächlichen Erhebungen der Bundesagentur für Arbeit nachweisbar den erhofften sogenannten "Klebeeffekt" gebracht, da ein beachtlicher Prozentsatz der Leiharbeitnehmer von den Entleihern in ein Beschäftigungsverhältnis übernommen wurde. Die Erleichterungen sind allerdings sukzessive wieder aufgehoben worden, der erratische Schlingerkurs der Gesetzgebung ist von der starken Deregulierung längst wieder hin zur Überregulierung umgeschlagen. Leiharbeit wurde kostspieliger und aufwendiger, sodass die Zahl der Leiharbeitnehmer (momentan etwa zwei Prozent aller Beschäftigten) seit der vergangenen AÜG-Reform vom April 2017 wieder rückläufig ist.
Einflussreich: Die Wirkung des Europarechts
Einen enormen Einfluss auf das nationale Arbeitsrecht hatte – ebenso wie in allen anderen EU-Mitgliedstaaten – in beiden Dekaden das EU-Recht und die Rechtsprechung des EuGH. Fundamentale Unterschiede zwischen den europäischen Staaten werden im Bereich des Arbeitsvertragsrechtes schon dadurch vermieden, dass das europäische Primärrecht und viele europäische Richtlinien inzwischen ein Mindestschutzniveau vorschreiben. Das gilt etwa für den Nachweis der Arbeitsbedingungen, den Diskriminierungsschutz, das Urlaubsrecht, das Arbeitszeitrecht, den Mutterschutz, den Schutz der Arbeitnehmer bei Insolvenz ihres Arbeitgebers, die Leiharbeit und für den Schutz der Arbeitnehmer nach einem Betriebsübergang. Lediglich die Lohngestaltung ist neben dem Kündigungsschutz der Einflussnahme durch den europäischen Gesetzgeber entzogen.
Deutschland geht allerdings in vielen Fragen über das europäische Schutzniveau hinaus, etwa im Arbeitszeitrecht. Aktuell erweist sich das angesichts der Veränderung der Arbeitswelt durch die Digitalisierung für die Unternehmen als Bürde. Nur diejenigen Länder, die von der Opt-out-Möglichkeit der Arbeitszeitrichtlinie Gebrauch gemacht haben, bieten hier den Arbeitsvertragsparteien die dringend notwendige Flexibilität.
Massiven Einfluss hatte auch die Rechtsprechung des EuGH, etwa im Bereich der verbotenen Altersdiskriminierung und jüngst im Urlaubsrecht. In beiden Fällen mussten die deutschen Arbeitsgerichte ihre gefestigte Rechtsprechung aufgrund der Hinweise des EuGH komplett aufgeben. Die Unternehmenspraxis wird von Entscheidungen der Luxemburger Richter häufig unvorbereitet getroffen und leidet zudem unter einer höchst unbefriedigenden Rechtsunsicherheit, weil die konkreten Auswirkungen der zu ausländischen Rechtsordnungen ergangenen Urteile unklar bleiben. Verwiesen sei nur auf die jüngste EuGH-Entscheidung zur Dokumentationspflicht der Arbeitszeit.
Kollektives Arbeitsrecht: Spannende Entwicklung beim Tarifrecht
Viel Bewegung gibt es beim Tarifrecht, und zwar sowohl in rechtstatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht. Die normative Tarifbindung aufgrund beiderseitiger Verbandsmitgliedschaft nimmt kontinuierlich ab. Der Gewerkschaftsbeitritt verliert an Reiz, die Mitgliedszahlen sind trotz neuer Höchststände bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen rückläufig. Auf Arbeitgeberseite wird die traditionelle Verbandsmitgliedschaft mit Tarifbindung zunehmend unattraktiv und durch die OT-Mitgliedschaft (Ohne Tarifbindung) ersetzt.
Im Bayerischen Arbeitgeberverband der Metallindustrie sind inzwischen 75 Prozent der Mitglieder im OT-Bereich: ein klares Signal gegen die Tarifpolitik und das deutsche Tarifmodell. Diese Entwicklung hat sicherlich viele Gründe. Auf Arbeitgeberseite wird die Bindung als zu starr empfunden, selbst nach einem Verbandsaustritt kann eine Nachbindung (§ 3 Abs. 3 Tarifvertragsgesetz) an Tarifverträge auch nach Jahrzehnten fortbestehen, wenn etwa ein Manteltarifvertrag nicht gekündigt wurde.
Gesetzlicher Zwang schränkt Autonomie ein
Statt die Attraktivität der Verbandsmitgliedschaft durch feste Höchstfristen für die Nachbindung oder Entlastung von bürokratischen Pflichten (etwa bei der Mindestlohnüberwachung) zu erhöhen, meint der Gesetzgeber, auf diese Entwicklung mit zunehmendem Zwang und einer Verstaatlichung des Tarifsystems reagieren zu müssen. Bezeichnend ist insoweit die irreführend als "Tarifautonomiestärkungsgesetz" benannte Reform des Jahres 2014. An die Stelle der autonomen Bindung der Unternehmen an Tarifverträge, legitimiert über die frei gewählte Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband, tritt eine staatlich aufoktroyierte Tarifbindung. Die Voraussetzungen für eine Allgemeinverbindlicherklärung durch den Bundesarbeitsminister wurden verwässert; die Möglichkeiten, einen Tarifvertrag durch Rechtsverordnung gegen den Willen der Mehrheit im Tarifausschuss auf Außenseiter zu erstrecken, wurden massiv erweitert. Nicht einmal alle Gewerkschaftsvertreter müssen der Erstreckung noch zustimmen, die Arbeitgebervertreter im Tarifausschuss sind ohnehin entmachtet. Zudem ist das Arbeitnehmerentsendegesetz zu einem Branchenmindestlohngesetz zweckentfremdet worden.
In anderen Gesetzen, etwa dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, gibt es ähnlich bedenkliche Entwicklungen. Die eigentlich zuständigen Koalitionen der Verleiherbranche werden entmündigt. Zudem werden nicht verbandlich organisierte Unternehmen gegenüber tarifgebundenen gezielt schlechter gestellt, indem sie mit ihren Betriebsräten nur in geringerem Umfang eine Verlängerung der Höchstüberlassungsdauer von 18 Monaten vereinbaren dürfen.
Auf Dauer wird sich dieser Weg nicht fortsetzen lassen, denn Tarifverträge, die nur eine geringe mitgliedschaftliche Legitimation aufweisen, bilden keine geeignete Grundlage einer staatlichen Erstreckung auf Außenseiter. So erscheint es etwa bei den aktuellen Bemühungen um allgemeinverbindliche Tarifverträge im Pflegebereich höchst fraglich, ob die Gewerkschaft Verdi angesichts ihres geringen Organisationsgrads mit einem Arbeitgeberverband, der seinerseits nur einen kleinen Teil der Pflegebranche repräsentiert, Tarifverträge abschließen kann, die einer staatlichen Erstreckung zugänglich sind. Der Blick in die Zukunft des deutschen Tarifsystems, bislang ein zentraler Stützpfeiler des deutschen Arbeitsmarkts und der deutschen Wirtschaft, ist damit düster.
20 Jahre Arbeitsrecht: Keine Antworten auf Zukunftsfragen
Insgesamt zeigt der Rückblick eine aus Unternehmenssicht wenig erfreuliche Entwicklung des Arbeitsrechts. Wichtige Reformprojekte, wie die gesetzliche Kodifikation eines transparenten und kohärenten Arbeitsvertragsrechts in einem Arbeitsvertragsgesetzbuch sind trotz Vorarbeiten aus der Wissenschaft nicht in Angriff genommen worden. Der arbeitsrechtliche Praktiker trifft auf unklare, unausgewogene und teilweise widersprüchliche Regelungen in einer Vielzahl von Einzelgesetzen. Unverständliche Formulierungen und mangelnde Kalkulierbarkeit führen zu Irritationen und letzten Endes zu überflüssigen Konflikten mit kostentreibenden Konsequenzen bei allen Betroffenen. Große Bereiche des Arbeitsrechts sind überhaupt nicht kodifiziert, die Arbeitsgerichte müssen die Lücken als Ersatzgesetzgeber schließen.
Die in Angriff genommenen Reformen münden dagegen nahezu durchgängig in politischen Kompromissen, mit denen meist beide Arbeitsvertragsparteien unzufrieden sind. Sie bleiben Stückwerk und werfen – wie die mit anderen Gesetzen nicht abgestimmte Kodifikation des Arbeitsvertrags in § 611a BGB – neue Fragen auf, ohne alte zu klären. Auf die Herausforderungen der Zukunft, die räumliche und zeitliche Entgrenzung der Arbeit, die Folgen der Digitalisierung, neue Beschäftigungsformen über die Plattformökonomie, bietet unser ganz auf die "alte Arbeitswelt" zugeschnittenes Arbeitsrecht keine Antworten.
Prof. Dr. Martin Henssler ist geschäftsführender Direktor des Instituts für Arbeitsrecht an der Universität zu Köln.
Die ungekürzte Fassung des Beitrags lesen Sie in unserer Jubiläumsausgabe 9/2019 zu 20 Jahren Personalmagazin. Die gesamte Ausgabe finden Sie auch in der Personalmagazin-App.
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