"Verfassungsrechtlich ist das alles dünnes Eis"
Haufe Online-Redaktion: Im Koalitionsvertrag hat sich die Regierung vorgenommen, die Tarifeinheit gesetzlich festzuschreiben. Der "bestehende Koalitions- und Tarifpluralismus" solle "in geordnete Bahnen" gelenkt werden, "flankierende Verfahrensregeln verfassungsrechtlich gebotenen Belangen Rechnung" tragen. Nun möchte Andrea Nahles noch im Herbst einen Vorschlag vorlegen. Wie kann dieser auf Basis des Koalitionsvertrags konkret aussehen?
Gregor Thüsing: Darüber mag man rätseln. Wer ist schon gegen geordnete Bahnen? Auch welche "flankierenden Verfahrensregelungen" gemeint sein können, bleibt unklar. Das Koalitionspapier schweigt, und auch dem kundigen Juristen fällt hier nichts ein. Denn Kooperationspflichten zwischen den verschiedenen Gewerkschaften zu schaffen, würde das Lager der Arbeitnehmerseite erheblich schwächen und so die Kampfgewichte einseitig zu Gunsten der Arbeitgeberseite verlagern. Auch eine Zwangssynchronisation der Tariflaufzeiten würde nicht weiterhelfen. Es käme dennoch zur Verdrängung des Minderheitentarifvertrags, wenn beide Gewerkschaften gleichzeitig und aufeinander abgestimmt verhandeln, solange sie keinen gemeinsamen Tarifvertrag anstreben. Der Kompromiss im Koalitionsvertrag ist damit ein Formelkompromiss, der die entscheidenden Fragen offen lässt.
Haufe Online-Redaktion: Was wären aus Ihrer Sicht die entscheidenden Fragen? Wo liegen die Probleme?
Thüsing: Verfassungsrechtlich ist das alles recht dünnes Eis. Man darf den Spartengewerkschaften durch neue Gesetzgebung nicht die Luft zum Atmen nehmen. Auch sie genießen den Schutz der Koalitionsfreiheit und haben daher bereits mit einer Klage in Karlsruhe gedroht. Zwar dient die Tarifeinheit auch dem Schutz der Tarifautonomie, denn sie stärkt die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems. Allerdings: Eine Rückkehr zur Tarifeinheit geht nur über gesetzliche Arbeitskampfregeln. Hier liegt die entscheidende Herausforderung gelungener Gesetzgebung. Will man spezifisch am Arbeitskampfrecht ansetzen, dann könnte eine Regelung zum Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge helfen. Diese würde die meisten Probleme effektiv lösen und zugleich einen relativ geringen Eingriff in das bestehende System darstellen. Hierzu gibt es auch Vorschläge, die sich an erprobten Modellen im Ausland orientieren.
Haufe Online-Redaktion: Welche Vorschläge schweben Ihnen da vor?
Thüsing: Nehmen Sie das Beispiel Kanada: Nach dem sogenannten "Essential Health and Community Services Act" sind dort die Gewerkschaften im Gesundheitswesen verpflichtet, Notdienstvereinbarungen mit Arbeitgebern zu schließen, die sie bestreiken wollen. Einigen sich die Parteien nicht, entscheidet ein neutraler Dritter über den Umfang dieser Dienste. In Deutschland existiert eine solche Regel nicht, würde aber Rechtssicherheit bei einer so wichtigen Frage schaffen.
Prof. Dr. Gregor Thüsing ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit an der Universität Bonn.
Das Interview führte Michael Miller, Redaktion Personal.
Hinweis: Das gesamte Interview lesen Sie in der kommenden Ausgabe (10/2014) des Personalmagazins, die Ende September erscheint.
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