Aktuelle Urteile zur ersten Tätigkeitsstätte
Hinsichtlich der steuerlichen Berücksichtigung von Reisekosten kommt es entscheidend darauf an, ob Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine erste Tätigkeitsstätte haben oder nicht. Weiterführend werden die Hintergründe und diverse Urteile dargestellt.
Erste Tätigkeitsstätte: Hintergrund
Eine erste Tätigkeitsstätte ist insbesondere gegeben, wenn der Arbeitgeber den Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin
- einer ortsfesten betrieblichen Einrichtung
- dauerhaft zuordnet und
- der/die Betroffene dort zumindest in geringem Umfang tätig wird.
Gerade das Tätigwerden führt immer wieder zu Zweifelsfällen. Schon bei den ersten Urteilen des BFH war eine Tendenz zur Annahme einer ersten Tätigkeitsstätte erkennbar. Erforderlich, aber auch ausreichend, sei, dass Arbeitnehmende am Ort der ersten Tätigkeitsstätte zumindest in geringem Umfang Tätigkeiten zu erbringen haben, die er/sie arbeitsvertraglich oder dienstrechtlich schuldet und die zum ausgeübten Berufsbild gehören (BFH Urteil vom 04.04.2019 - VI R 27/17, BStBL II S. 536 und BFH Urteil vom 11.04.2019 - VI R 40/16). Danach haben z. B. viele Beamte und Arbeitnehmende im öffentlichen Dienst eine erste Tätigkeitsstätte, im damaligen Urteilsfall ging es um einen Streifenpolizisten. Die Tätigkeiten an der Dienststelle beschränkten sich im Wesentlichen auf die Vor- und Nachbereitung des Dienstes. Das reicht nach der Rechtsprechung aus.
Ebenfalls hat der BFH erste Tätigkeitsstätten bei fliegendem Personal am Heimatflughafen bestätigt. Werden bei Piloten / Pilotinnen oder Flugbegleitern / Flugbegleiterinnen verpflichtende Briefinggespräche im Gebäude des Arbeitgebers am zugewiesenen Flughafen durchgeführt, reicht das schon aus ( FG Hamburg Urteil vom 24.11.2022 - 6 K 207/21; NZB eingelegt, Az. BFH VI B 4/23). Als erste Tätigkeitsstätte kommt auch ein großflächiges und entsprechend infrastrukturell erschlossenes Gebiet wie ein Flughafen in Betracht (BFH Urteile vom 11.04.2019 - VI R 40/16 und VI R 12/17, BStBl II S. 546 und 551).
Inzwischen hat die Verwaltung diese Urteile in ihren überarbeiteten Verwaltungserlass übernommen und wendet sie an (BMF, Schreiben vom 25.11.2020, IV C 5 - S 2353/19/10011 :006, Randnummer 3 und 9 ergänzt durch BMF, Schreiben vom 03.12.2020, IV C 5 - S 2353/19/10010 :002).
Lesen Sie dazu auch unseren Beitrag: Neuer Erlass zur ersten Tätigkeitsstätte.
Folgen der ersten Tätigkeitsstätte
Fährt ein Arbeitnehmer zu seiner ersten Tätigkeitsstätte, kann er für diese Fahrten nur die Entfernungspauschale von 0,30 Euro je Entfernungskilometer (0,38 Euro ab dem 21. Entfernungskilometer) abziehen. Steuerfreie Erstattungen scheiden zumindest für Fahrten mit dem PKW aus. Bei Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel gibt es das steuerfreie Jobticket. Auf jeden Fall entfällt aber an der ersten Tätigkeitsstätte der Ansatz von Verpflegungsmehraufwendungen. Entsprechendes gilt, wenn Arbeitnehmende ein sogenanntes weiträumiges Tätigkeitsgebiet aufsuchen.
Keine erste Tätigkeitsstätte
Liegen weder eine erste Tätigkeitsstätte noch ein Sammelpunkt oder ein weiträumiges Tätigkeitsgebiet vor (dazu später mehr), können die Fahrtkosten mit 0,30 Euro je gefahrenen Kilometer abgezogen oder steuerfrei erstattet werden. Bei Tätigkeiten von mehr als acht Stunden kommt der Ansatz von Verpflegungsmehraufwendungen in Höhe von 14 Euro in Betracht.
Inzwischen hat der BFH für weitere Berufsgruppen, insbesondere aus dem öffentlichen Dienst entschieden:
Postzusteller: Zustellzentrum als erste Tätigkeitsstätte
Der Zustellpunkt (= Zustellzentrum), dem ein Postzusteller (oder eine Zustellerin) zugeordnet ist und an dem arbeitstäglich vor- und nachbereitende Tätigkeiten (z. B. Sortiertätigkeiten, Abschreibpost, Abrechnungen) ausgeübt werden, ist nach dem Urteil des BFH eine erste Tätigkeitsstätte (BFH Urteil vom 30.09.2020 - VI R 10/19). Der Kläger war nach Auffassung des Gerichts am Zustellpunkt in dem erforderlichen Umfang tätig geworden. Als Postzusteller hatte er im Zustellpunkt arbeitstäglich Tätigkeiten auszuführen, die ebenso zum Berufsbild eines Postzustellers gehören wie das Zustellen der Briefe an die Kunden im Zustellbezirk.
Entgegen der Ansicht des Klägers war er dem Zustellpunkt auch dauerhaft zugeordnet, weil er unbefristet dorthin versetzt worden war. Der Umstand, dass Arbeitnehmende jederzeit einer anderen Tätigkeitsstätte zugeordnet werden können, ist nach Auffassung des BFH unerheblich (vgl. auch schon BFH Urteil vom 04.04.2019 - VI R 27/17).
Inhaltsgleich hat der BFH in einem Parallelfall für einen weiteren Postzusteller entschieden (BFH Urteil vom 30.09.2020 - VI R 12/19).
Rettungssanitäter: Rettungswache ist erste Tätigkeitsstätte
Die Rettungswache, der ein Rettungsassistent (oder eine Rettungsassistentin) zugeordnet ist, ist nach Urteil des BFH die erste Tätigkeitsstätte, wenn dort arbeitstäglich vor dem Einsatz auf dem Rettungsfahrzeug vorbereitende Tätigkeiten vorgenommen werden. Dazu gehören z. B. die Überprüfung des Rettungsfahrzeugs in Bezug auf Sauberkeit und ordnungsgemäße Bestückung mit Medikamenten und sonstigem (Verbrauchs-)Material, im Bedarfsfall auch die Reinigung sowie Bestückung des Fahrzeugs (BFH Urteil vom 30.09.2020 - VI R 11/19).
Entgegen der Ansicht des Klägers war dieser der Hauptwache auch dauerhaft zugeordnet. Er musste seit Beginn seiner Tätigkeit als Rettungsassistent nach den von seinem Arbeitgeber aufgestellten Dienstplänen seine Tätigkeit grundsätzlich in der Hauptwache beginnen. Damit hatte der Arbeitgeber nach Auffassung des BFH den Sanitäter kraft seines Direktionsrechts der Hauptwache zugeordnet.
Feuerwehrleute: Bereitschaftszeit zählt auch mit
Ähnlich zu den vorstehenden Fällen liegt auch bei Feuerwehrleuten oftmals eine erste Tätigkeitsstätte vor, wenn eine Zuordnung zur Rettungswache erfolgt und dort arbeitstäglich vor dem Einsatz vorbereitende Tätigkeiten erbracht werden.
Nicht ganz abschließend geklärt ist jedoch der Fall, wenn Feuerwehrleute auf mehreren Wachen eingesetzt werden können. Hier hat der BFH einen Fall an das Finanzgericht zurückverwiesen (BFH Urteil vom 26.10.2022 - VI R 48/20). Das hatte eine erste Tätigkeitsstätte zunächst allein mit der Begründung verneint, der Kläger sei nach Arbeitsvertrag verpflichtet, seinen Dienst an vier verschiedenen Einsatzstellen zu leisten.
Das sieht der BFH differenzierter: Ob der Arbeitgeber den Kläger einer dieser betrieblichen Einrichtungen tatsächlich zugeordnet habe, lasse sich der Bestimmung im Arbeitsvertrag nicht entnehmen. Sie rechtfertige auch nicht den (Umkehr-)Schluss, der Kläger sei keiner dieser betrieblichen Einrichtungen zugeordnet worden. Hier bleibt also der zweite Rechtsgang beim Finanzgericht Rheinland-Pfalz abzuwarten.
Bereits jetzt hat der BFH aber ausdrücklich klargestellt: Gelangt das Gericht zu dem Ergebnis, dass eine dauerhafte Zuordnung zu einer Feuerwache vorlag, ist hinsichtlich der Frage, ob der Kläger dort im erforderlichen Umfang tätig geworden ist, zu beachten, dass auch die Arbeitsbereitschafts- und Bereitschaftsruhezeiten, soweit diese an der ersten Tätigkeitsstätte abzuleisten sind, Tätigkeiten darstellen, die arbeitsvertraglich geschuldet sind und dem Berufsbild der Betriebs-/Werksfeuerwehr entsprechen.
Soldaten: Erste Tätigkeitsstätte trotz Versetzungsmöglichkeit
Auch Soldaten und Soldatinnen können an dem Bundeswehrstandort, dem sie dauerhaft zugeordnet sind, eine erste Tätigkeitsstätte begründen. Der Umstand, dass Soldaten (auf Zeit) unter Beachtung der dienstrechtlichen Vorschriften (jederzeit) auch einem anderen Bundeswehrstandort zugeordnet werden können, steht einer dauerhaften Zuordnung nicht entgegen (BFH Urteil vom 22.11.2022 - VI R 6/21, NV).
Ausnahme Müllwerker: Keine erste Tätigkeitsstätte
Im Gegensatz zu den vorstehenden Fallgruppen hat sich jedoch ein Beschäftigter in der Entsorgungsbranche erfolgreich gegen eine erste Tätigkeitsstätte gewehrt. Der Betriebshof eines Müllwerkers ist keine erste Tätigkeitsstätte, wenn er dort lediglich die Ansage der Tourenleitung abhört, das Tourenbuch, Fahrzeugpapiere und -schlüssel abholt sowie die Fahrzeugbeleuchtung kontrolliert (BFH Urteil vom 02.09.2021 - VI R 25/19).
Das Finanzgericht sollte laut BFH im zweiten Rechtsgang belastbar feststellen, welche Tätigkeiten der Beschäftigte in den von ihm angegebenen Zeiträumen auf dem Betriebshof tatsächlich ausgeführt hat und ob er diese arbeitsrechtlich schuldete.
Das Ergebnis bestätigt die Vorentscheidung: Der Betriebshof des Entsorgers ist keine erste Tätigkeitsstätte eines Müllwerkers; auch längere regelmäßige Wartezeiten durch den Stau ausrückender Müllfahrzeuge sowie nur gelegentliche Verrichtungen wie Veranlassung von Reparaturen bei Beschädigungen oder Defekten an Müllfahrzeugen, gelegentliche Reinigung von Fahrzeugen und Betankung von gasbetriebenen Fahrzeugen an der Gastankstelle auf dem Betriebshof begründen keine erste Tätigkeitsstätte ( FG Berlin-Brandenburg, Gerichtsbescheid vom 16.06.2022 - 16 K 4259/17).
Werksbahn-Lokführer: firmeneigenes Schienennetz ist erste Tätigkeitsstätte
Immer wieder Streitfälle ergeben sich auch bei der Frage, wie groß eine erste Tätigkeitsstätte sein kann. Das firmeneigene Schienennetz, das ein Lokomotivführer mit der firmeneigenen Eisenbahn (Werksbahn) seines Arbeitgebers befährt, ist eine - wenn auch großräumige - erste Tätigkeitsstätte (BFH Urteil vom 01.10.2020 - VI R 36/18).
Damit setzt der BFH seine Flughafen-Rechtsprechung (siehe oben) fort, nach der als erste Tätigkeitsstätte auch ein großflächiges Gebiet in Betracht kommt. Demzufolge kann auch ein firmeneigenes Schienennetz eine erste Tätigkeitsstätte sein. Im Urteilsfall erstreckte sich das Netz über mehrere Ortschaften, verband betriebliche Einrichtungen des Arbeitgebers miteinander und konnte innerhalb von 45 Minuten durchfahren werden.
Wichtig: Abgrenzung weiträumiges Arbeitsgebiet
Bei einem Schienennetz wie auch beim Zustellbezirk von Postbeschäftigten erscheint alternativ die Annahme eines weiträumigen Arbeitsgebiets denkbar (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4a Satz 3 EStG). Unter dieser Voraussetzung wäre ein Abzug von Verpflegungsmehraufwendungen möglich gewesen (aber kein steuerfreier Fahrtkostenersatz) und zumindest in den Zusteller-Prozessen ist diese Argumentation auch vorgetragen worden. Wie der BFH jedoch zutreffend in seinen Urteilen ausführt, stellt sich die Frage, ob ein Zustellbezirk ein weiträumiges Tätigkeitsgebiet ist, nur dann, wenn der Betroffene - anders als die Kläger - über keine erste Tätigkeitsstätte verfügt.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Verwaltung beispielhaft davon ausgeht, dass unter anderem Zusteller in einem weiträumigen Tätigkeitsgebiet tätig werden (BMF, Schreiben vom 25.11.2020, IV C 5 - S 2353/19/10011 :006, Randnummer 42, ergänzt durch BMF, Schreiben vom 3. Dezember 2020, IV C 5 - S 2353/19/10010 :002). Ähnliches ergab sich bereits aus der Gesetzesbegründung. Nach dem Urteil des BFH dürften der Gesetzgeber und das BMF bei der Erwähnung des (Brief-/Post-) Zustellers von einem anderen Tätigkeitsbild eines Postzustellers ausgegangen sein. Gemeint sind hier wohl die Tätigkeiten im Zustellzentrum, die zur Annahme einer ersten Tätigkeitsstätte in den Urteilsfällen geführt haben.
Sonderfall Schiffshafen: Erste Tätigkeitsstätte oder weiträumiges Arbeitsgebiet?
In Abgrenzung zu vorstehender Rechtsprechung hatte das Finanzgericht Niedersachsen entschieden, dass der Hamburger Hafen keine erste Tätigkeitsstätte, sondern ein weiträumiges Arbeitsgebiet ist ( Niedersächsisches FG Urteil vom 03.02.2021 - 4 K 11006/17). Nach der Entscheidung des BFH im Revisionsverfahren kam es darauf im Urteilsfall aber gar nicht an. Ein Tätigwerden in einem weiträumigen Tätigkeitsgebiet liegt nur vor, wenn Arbeitnehmende die vertraglich vereinbarte Arbeitsleistung auf einer festgelegten Fläche und nicht innerhalb einer ortsfesten betrieblichen Einrichtung des Arbeitgebers, eines verbundenen Unternehmens oder bei einem vom Arbeitgeber bestimmten Dritten auszuüben haben (BFH Urteil vom 15.02.2023 - VI R 4/21).
Arbeitnehmende, die ihrer eigentlichen Tätigkeit in einer ortsfesten betrieblichen Einrichtung nachgehen, werden von der Vorschrift zum weiträumigen Arbeitsgebiet nicht erfasst, auch wenn ihnen ein bestimmtes Tätigkeitsgebiet zugewiesen ist und sie dort in verschiedenen ortsfesten betrieblichen Einrichtungen tätig werden. Der BFH verweist insoweit auf die eigene Abgrenzung der Finanzverwaltung (BMF, Schreiben vom 25.11.2020, IV C 5 - S 2353/19/10011 :006, Randnummer 42).
Im Urteilsfall fehlte es somit an einer weiträumigen Tätigkeit des Klägers. Er wurde nicht auf einer festgelegten Fläche, sondern aufgrund (tagesaktueller) Weisungen in ortsfesten betrieblichen Einrichtungen von (vier) Kunden seines Arbeitgebers tätig. Darauf, dass sich alle Einsatzorte auf dem Gebiet des Hamburger Hafens befanden, kam es insoweit nicht mehr an. Die Suche nach einem (gerichtlichen) Anwendungsfall des weiträumigen Tätigkeitsgebiets im neuen Reisekostenrecht geht also weiter.
Wichtig: Auch ohne erste Tätigkeitstätte kann ein Sammelpunkt vorliegen
Anders sieht das hingegen mit dem Sammelpunkt aus. Wenn Mitarbeitende zwar keine erste Tätigkeitsstätte haben, aber auf Weisung ihres Arbeitgebers einen sogenannten Sammelpunkt aufsuchen müssen, ist zumindest der Fahrtkostenansatz ebenfalls eingeschränkt und ein steuerfreier Arbeitgeberersatz ausgeschlossen. Ein Sammelpunkt liegt vor, wenn die Beschäftigten nach den arbeitsrechtlichen Festlegungen und den diese ausfüllenden Weisungen und Absprachen zur Aufnahme ihrer beruflichen Tätigkeit dauerhaft denselben Ort (betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers) typischerweise arbeitstäglich aufsuchen (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4a Satz 3 EStG).
Nähere Einzelheiten und die neuesten Urteile dazu lesen Sie in unserem Beitrag "Fahrtkostenerstattung: Wann liegt ein Arbeitgeber-Sammelpunkt vor?".
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