Chief Digital Officer auf dem Schleudersitz?
Personalmagazin: In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte Siemens-Chef Roland Busch: "So wie Unternehmen keinen Chief Digital Officer brauchen, weil die Digitalisierung Chefsache sein muss, ist auch ein eigenständiges Digitalministerium keine Lösung." Herr Belusa, Sie sind Chief Digital Officer bei Hapag-Lloyd. Was meinen Sie dazu?
Ralf Belusa: Digitalisierung – aus meiner Sicht geht es um Transformation und Weiterentwicklung der Firma – ist natürlich Chefsache. Das ist gar keine Frage. Man muss aber auch sagen: Wenn in einem Unternehmen zu wenig Transformations- und Weiterwicklungs-Know-how in einzelnen Unternehmensbereichen vorhanden ist, muss das aufgebaut werden. Das muss der oder die CEO treiben, das müssen aber auch die einzelnen Bereichsvorstände und Abteilungsleitungen mit treiben. Und dafür braucht man Leute, die das können. Es kommt immer darauf an, wie das Unternehmen aufgebaut ist, welches Know-how vorhanden ist. Manche Unternehmen brauchen eine Person, die die CDO-Rolle ausübt, andere brauchen sie nicht so stark.
Personalmagazin: Wie würden Sie die CDO-Rolle definieren?
Belusa: Das Verständnis der CDO-Rolle ist noch sehr mannigfaltig. Oftmals wird sie als technische Funktion angesehen. Aber dann ist das Scheitern schon vorprogrammiert, denn dann entwickelt das Unternehmen zwar tolle technische Lösungen, die aber nicht vermarktet oder verkauft werden können. Deshalb ist ein holistischer Blick auf das Unternehmen und seine Produkte nötig. Ich sehe die CDO-Rolle als eine Art Geburtshilfe an. Es geht darum, die Dinge voranzubringen, das Mindset zu öffnen, das Know-how zu etablieren und auch die nächsten Schritte klar zu machen, damit das Unternehmen nicht in seinen festgefahrenen Arbeitsweisen verharrt.
Dauerhaft und nicht nur temporär Veränderungen anstoßen
Personalmagazin: Herr Bechtle, wie häufig wird jemand in den eigenen Reihen gefunden, der diese Rolle ausüben kann?
Lucas Bechtle: Viele Unternehmen brauchen einen oder eine CDO, um Veränderungen anzustoßen und neue Themen zu setzen. Es ist ein wichtiger Aspekt der CDO-Rolle, das Unternehmen aus den klassischen Strukturen herauszuführen. Das kann nur selten von einem "Eigengewächs" geleistet werden, das zu stark im bisherigen Konstrukt eingebunden ist. Deshalb sollte eine externe Person ins Unternehmen geholt werden, die sieht, wo die Firma steht, wie sie aufgestellt ist und wo man ansetzen kann, um eine Transformation hinzubekommen.
Personalmagazin: Das geht schon in die Richtung von Interim Management.
Bechtle: Das sehe ich tatsächlich nicht so. Viele Unternehmen begehen den Fehler, dass sie einen oder eine CDO auf Zeit ins Haus holen und dann sagen: "Das Projekt Digitalisierung ist abgeschlossen." Das muss ich leider sehr oft hören. Aber es stimmt einfach nicht. Digitalisierung ist kein Projekt, das man anfangen und abschließen kann. Es geht vielmehr um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Thema wird in den nächsten Jahren noch deutlich an Bedeutung gewinnen. Die Unternehmen werden deshalb immer jemanden brauchen, der im Vorstand sitzt und die Funktion ausübt.
Personalmagazin: Das ist bei den Dax-Unternehmen aber noch nicht so angekommen. Laut einer Studie hatten im Sommer 2021 nur 18 der damals 30 Dax-Mitglieder eine konkrete Zuständigkeit für die Digitalisierung benannt oder zumindest eine ausgewiesene Expertise. Nur in zwei Dax-Konzernen fanden sich dezidierte CDOs, ansonsten wird die Aufgabe nebenbei erledigt oder ist nicht im Vorstand angesiedelt. Woran liegt das? Sind Top-Kräfte für diese Themen so schwer zu finden – oder werden sie gar nicht gesucht?
Bechtle: Ich glaube, dass viele Dax-Unternehmen nicht verstanden haben, wie wichtig es ist, diese Position im Vorstand zu haben. Sie denken immer noch, dass das als Stabsstelle oder beratende Tätigkeit ausgeübt werden kann. Natürlich kommt es immer auf das Unternehmen und die Branche an. Es ist sicherlich nicht einfach, den Richtigen oder die Richtige zu finden. Aber auf dem Markt gibt es durchaus Personen, die fähig sind, eine solche Position im Vorstand zu besetzen. Das Hauptproblem ist jedoch wie gesagt das fehlende Verständnis in den Unternehmen, dass sie jemanden im Vorstand brauchen, der dieses Thema treibt.
Zusammenspiel von CHRO und CDO
Personalmagazin: Kann es sein, dass die Chief Human Resources Officer die CDOs als Bedrohung für die eigene Position ansehen und deshalb verhindern, dass eine CDO-Funktion etabliert wird?
Belusa: Beide Rollen sind wichtig. In einer komplexen, vernetzten Welt braucht es Expertinnen oder Experten, die diese Zusammenhänge verstehen und managen können, die die alte und die neue Welt verbinden und die Schnittstellen herstellen können. Heute gilt nicht mehr, dass alles, was Daten, künstliche Intelligenz und Automatisierung betrifft, ein IT-Thema ist und nichts mit Human Resources zu tun hat. Deshalb braucht es heute Managerinnen und Manager, die das verstehen und ein erfolgreiches Team zusammenstellen, das Themen wie Recruiting, Arbeitsschutz und Arbeitsrecht anreichert mit Erkenntnissen aus dem Marketing, mit agilen Methoden und mit Wissen zur Automatisierung. Es gilt, sich zu ergänzen, und dafür braucht es Personen, die dieses breite Know-how einbringen und die Gedanken öffnen, damit es eben nicht heißt: "Automatisierung in HR: Das ist doch ein IT-Thema." Solch Vorbehalte gilt es aufzubrechen, um sich gegenseitig unterstützen zu können.
Bechtle: Es sollte eher ein Zusammenspiel sein und die CDO-Funktion ist die eines Impulsgebers: Dieses und jenes in den Abteilungen kann digitaler durchgeführt und verbessert werden. Aber es gibt tatsächlich viele Überschneidungen bei den Themen, zum Beispiel Organisationsentwicklung und Change Management liegen sowohl bei CDO als auch bei CHRO. Dennoch wird bei den Digitalisierungsvorhaben der HR-Bereich in vielen Unternehmen zu wenig wahrgenommen. Dabei ist er einer der wichtigsten Treiber, gerade was die kulturelle Veränderung und das Erwerben neuer Kenntnisse angeht.
Personalmagazin: Herr Belusa, wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit der Personalleitung in Ihrem Unternehmen?
Belusa: Als Mediziner habe ich gelernt, zunächst eine Anamnese durchzuführen: Was wird benötigt, um erfolgreich als Team zusammenarbeiten? Wir haben uns genau angeschaut, was der HR-Bereich macht und wo wir unterstützen können. Wir sind Impulsgeber, die gemeinsam mit HR die Themen identifizieren, Wissen aufbauen und Veränderungen anstoßen. Wir sprechen auf Augenhöhe. Da können wir ganz klar jeden Monat oder alle 90 Tage Ziele setzen. Dann setzen wir uns zusammen und sehen, an welchen Themen – seien es Nachhaltigkeitsthemen, Weiterbildungsmaßnahmen oder andere – weitergearbeitet werden sollte.
Personalmagazin: Im Schnitt sind die CDOs der Dax-Konzerne gerade mal knapp zwei Jahre im Amt, bevor sie das Unternehmen verlassen oder verlassen müssen. Woran liegt das: an verkrusteten Strukturen, Grabenkämpfen, zu hohen Erwartungen der Unternehmen…?
Bechtle: Das sind schon die wichtigsten Punkte. Nach meiner Erfahrung gehen die meisten CDOs, weil sie frustriert sind oder weil die CEOs das Thema nicht in dem Umfang, wie es sein sollte, unterstützen. Für eine Transformation ist ein starkes Investment nötig. Das heißt, dass man am Ende des Jahres nicht die gleichen guten Zahlen vorzeigen kann wie im Vorjahr, weil man investieren musste. Das scheuen viele Unternehmensleitungen. Zudem gibt es in den meisten Vorständen Personen, die an den alten Strukturen festhalten wollen, und sich von manchen CDOs überrannt fühlen. Das alles führt dazu, dass einige CDOs sich entscheiden zu gehen – oder gegangen werden.
Belusa: Ein falsches Set-up und Verständnis der CDO-Rolle kann auch dazu führen, dass die Zusammenarbeit nicht klappt. Dann kann es CDOs sehr schwer fallen, zum Beispiel nur die IT agil aufzustellen – ohne Verbindung zum Marketing und zum Sales. In einer vernetzten Arbeitswelt geht das nicht. Schon kann es zu Problemen kommen, weil die oder der CDO eine vernetzte und vernetzende Rolle hat. Oftmals ist leider die traditionelle Sichtweise: "Das Marketing oder den Sales machen wir. Da redet uns keiner rein." Daran kann es häufig scheitern und deswegen beträgt die Halbwertszeit oft nur wenige Jahre.
CDO: Nicht nur IT-Kenntnisse für Stellenbesetzung relevant
Personalmagazin: Ist es dann nicht eine Aufgabe für Sie, Herr Bechtle, zunächst zu prüfen, ob die richtigen Voraussetzungen gegeben sind, bevor sie jemanden in eine CDO-Rolle vermitteln?
Bechtle: Absolut. Es ist ein wichtiger Bestandteil der Gespräche mit den Unternehmen. Wir haben schon viel erlebt. In einem Unternehmen beispielsweise sollte der oder die CDO an den CIO berichten. Da sind Konflikte vorprogrammiert. Wir sagen ganz klar, dass wir solche Aufträge nicht übernehmen, da wir auch niemanden aus unserem Netzwerk finden würden, der oder die für eine solche Rolle in dieser Konstellation bereit wäre. Wir achten darauf, dass das Set-up passt. Ansonsten bringen wir jemanden in das Unternehmen, der in der neuen Position unglücklich ist. Dann ist weder der Kunde zufrieden noch die vermittelte Person.
Personalmagazin: Wie relevant sind IT-Kenntnisse für die Besetzung von CDO-Positionen?
Bechtle: Die wichtigsten Punkte sind Kommunikation und Persönlichkeit: Wie gehen die Personen auf die verschiedenen Abteilungen innerhalb des Unternehmens zu? Können sie die Mitarbeitenden mitnehmen auf die Reise? Können Sie ihnen die Angst vor der Digitalisierung nehmen? Sicherlich ist ein gewisses IT-Verständnis nicht verkehrt, weil es oft um Automatisierungsthemen geht und um digitale Produkte. Aber das Ausschlaggebende für uns sind die persönlichen Faktoren: Ist das eine Führungspersönlichkeit, die das Thema vorantreiben kann und die gesamte Belegschaft begeistern kann?
Personalmagazin: Frauen sind bei CDO-Positionen noch unterrepräsentiert. Wie wichtig ist Diversity bei der Stellenbesetzung?
Bechtle: Diversity ist ein großes Thema, nicht nur bei CDO-Positionen, sondern bei jeder Suche. Jetzt werden sich einige aufregen, wenn ich das so sage. Meiner Ansicht nach gibt es einige CDO-Positionen, die nur aus Diversity-Gründen so besetzt sind. Es gibt top-qualifizierte Frauen im digitalen Umfeld. Aber es gibt CDO-Positionen, die nicht unbedingt mit den am besten geeigneten Personen besetzt sind. Das ist der Spagat, in dem wir uns auch bewegen. Quote ist ein wichtiges Thema. Aber die Unternehmen dürfen die Quote nicht so ernst nehmen, dass sie sich für eine Person entscheiden, nur weil es eine Frau ist. Das ist wiederum in die andere Richtung diskriminierend. In der Beratung sage ich deshalb klar: Natürlich ist es wichtig, die Quote zu erreichen. Aber wir brauchen in erster Linie die richtige Persönlichkeit – ob das eine Frau oder ein Mann ist, sollte egal sein. Leider ist es inzwischen häufig so, dass die Unternehmen sagen: Der Mann ist zwar etwas besser, aber wir nehmen die Frau.
Personalmagazin: Herr Belusa, was hat Sie daran gereizt, eine CDO-Position anzunehmen? Sie haben sich im Laufe Ihres Werdegangs mit ganz unterschiedlichen Themen beschäftigt, zum Beispiel Zellforschung, Nanotechnologie und Systemtheorie.
Belusa: Für mich ist es wichtig, wie das Unternehmen die CDO-Rolle definiert. Hapag-Lloyd kombiniert Business – Sales, Customer Service und Marketing – und IT. Hier kann ich meine Erfahrungen einbringen und Veränderungen sowie die kontinuierliche Neuerfindung des Geschäfts anstoßen. Es ist nicht nur eine rein strategische Aufgabe. Für mich ist es hilfreich, das Wissen aus den anderen Fachbereichen einzubringen, in denen ich gearbeitet habe, sei es aus Automotive oder E-Commerce. Auch andere Kenntnisse kann ich einbringen, sei es aus HR oder Sales, um die Kolleginnen und Kollegen zu motivieren und ihnen aufzuzeigen, dass wir an spannenden Themen arbeiten.
Dieses Interview ist erschienen in Personalmagazin Ausgabe 6/2022. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der Personalmagazin-App.
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