Konzernumbauten machen wieder Schlagzeilen. Bayer kündigt einen radikalen Abbau von Managementebenen an und plant, dass künftig "praktisch jeder in kleinen, selbstverwalteten Teams arbeiten wird, die sich auf einen Kunden oder ein Produkt konzentrieren – so wie es ein Kleinunternehmer tun würde." Das sagt der Vorstandschef Bill Anderson.
Der Versicherungskonzern AXA wiederum schaffe in der Schweiz, titelt die Tageszeitung Blick, Hierarchien ab und kassiert alle Titel ein. So verteile sich die Verantwortung besser auf mehrere Schultern und Statusdenken nehme ab, sagt Personalchefin Daniela Fischer.
Kritik an formalen Führungspositionen
Beide Beispiele spiegeln einen schon länger währenden Trend wider. Formale Führungspositionen werden kritisch beäugt – und nicht nur aus der Topetage:
- Vorstände und Aufsichtsräte fragen sich zunehmend, ob die Mittelmanager ihr Geld wert sind oder nicht eher Dynamik, Veränderung und Innovation ausbremsen.
- Mitarbeitende drängen auf mehr Entfaltungs- und Gestaltungsspielraum und beklagen schon fast habituell "schlechte Führung".
- Führungskräfte wiederum fühlen sich zerrieben im Hamsterrad überzogener Erwartungen, überbordender Arbeitsbelastung sowie stetig steigender Verantwortlichkeiten.
Was also wird aus dem Traumberuf Chefin oder Chef? Wie attraktiv ist die Position der Vorgesetzten noch – und wie viel Zukunft hat sie? Ich möchte hier ein sehr persönliches, aus der Befassung mit konkreten Transformationsprojekten, mit der Führungsliteratur sowie eigenem Erleben gewonnenes Szenario entwerfen.
Führung und Hierarchie: Keine Frage ob, sondern wie
Für mich ist klar: An Hierarchien geht kein Weg vorbei. Sie bilden sich auch dort, wo man sie in Organigrammen nicht mehr ausweist. Komplexe Organisationen brauchen sie auch, um Verantwortlichkeiten zu lokalisieren, Ressourcen zu steuern, Eskalationsstufen zu gewährleisten und rechtlichen Anforderungen zu genügen (Organisationsverschulden).
Daher wird es immer Managerinnen und Manager geben, die all das sicherstellen. Wie viele das auf wie vielen Hierarchiestufen sein werden, ist eher die Frage. Statt also den Kahlschlag zu predigen, sollten hier die Überlegungen ansetzen. Aus guten Gründen fördern und fordern immer mehr Unternehmen die stärkere Beteiligung der Mitarbeitenden an Entscheidungen, an Planungen, an Strategiefragen und überhaupt an allen Team- und Bereichsbelangen. Mehr Verantwortung, neudeutsch "ownership", ist nicht nur etwas, was sich die Teppichetage von Mitarbeitenden wünscht, sondern auch etwas, was Mitarbeitende an ihrem Arbeitsplatz erwarten.
Neue Konzepte von Führung
Nicht von ungefähr haben wir daher seit fast drei Jahrzehnten über Empowerment der Mitarbeitenden geredet. Aus ähnlichem Antrieb heraus hat die New-Work-Bewegung Zusammenarbeit auf Augenhöhe und mehr Gestaltungs- und Entfaltungsraum für Mitarbeitende gefordert. Neue Konzepte wie kollegiale, geteilte oder verteilte Führung (shared leadership) haben hierin ihre Wurzel.
Forschung zeigt, dass sich unter diesen Bedingungen die Teameffektivität, Arbeitszufriedenheit und Belastung aller Beteiligten verbessern kann. Und selbst abgehobener Managementphantasien unverdächtige Berater wie McKinsey oder der US-amerikanische HR-Analyst Josh Bersin verweisen mittlerweile anerkennend auf kollaborativ führende Unternehmen wie Decathlon, Mars, Lego oder Marriott.
Download-Tipp: Geteilte Führung als Modell der Zukunft? Ist es besser, allein oder gemeinsam an der Spitze zu sein? Agile Zusammenarbeit und vermehrte Selbstorganisation in Teams erfordern eine Führungspraxis, die nicht mehr an eine formale Führungsposition gebunden ist. Das Whitepaper "Shared Leadership" der Haufe Akademie beleuchtet die Herausforderungen und Chancen geteilter Führung und bietet Einblicke in die Praxis. |
Formale Führungskräfte werden zu Managenden
Deshalb wage ich hier die Vorhersage: Der Trend zu flachen Hierarchien wird anhalten. Gleichzeitig werden wir eine zunehmende Verlagerung von Führungsaufgaben direkt in Gruppen hinein sehen. Dies kann in temporären oder dauerhaften Rollen geschehen (z. B. Ausrufung von People Leads, Strategy Leads, Business Leads etc.) – oder sich bei hoher Reife und ausgeprägter Selbstorganisationskompetenz auch ad hoc herausschälen (eine Person ergreift die Initiative und führt (!) die Lösung für eine Herausforderung herbei).
Formale Führungskräfte (Vorgesetzte) wird es dabei weiterhin geben. Sie aber werden sich vor allem als Managende verstehen, formale Steuerungs- und Governance-Anforderungen erfüllen und ansonsten auf die Befähigung von Mitarbeitenden und die Balance aus Freiraum und Richtlinientreue (autonomy and alignment) achten.
Formale Führungskräfte sind dann nicht länger, wozu sie Tonnen von Businessratgebern machen wollten: Leader. Sie werden sich stattdessen auf die Mechanik und die Technik der Businesssteuerung verstehen. Ihr Fokus wird sich verengen, ihre Vergütung wird sich an der zur Businesssteuerung nötigen Fachexpertise und Erfahrung bemessen und Teams werden sie als Kolleginnen und Kollegen in exponierter Stellung mit Steuerungsauftrag wahrnehmen.
Leader können und sollen alle sein
Und wo bleiben dann die Leader? Menschen, die Gruppen anleiten und zusammenhalten, Initiative ergreifen, Probleme und Konflikte lösen, Ideen entwickeln, Menschen inspirieren und Entscheidungen allein oder mit anderen treffen? All das wird sich zunehmend auf allen Ebenen und in allen Bereichen des Unternehmens entwickeln und finden müssen. Dann erst wird auch die "Company of leaders", wie es viele Zukunftskonzepte zu Führung und Zusammenarbeit im Titel tragen (in diesem Fall ein Buch der Empowerment-Vordenker Gretchen Spreitzer und Robert Quinn), zum ernst zu nehmenden Organisationskonzept.
In dieser Welt sollten wir das Wort Führungskraft nicht mehr für Managerpositionen verwenden. Denn dieser Begriff beschreibt dann das Vermögen einer beliebigen Person, in Führung zu gehen und andere zum Mitmachen zu bewegen: "Sie oder er hat Führungskraft, lasst sie uns für diese Herausforderung nutzen!" Inwieweit diese Gedanken auch die Initiativen bei Bayer und Axa prägen, kann ich nicht sagen. Ich würde es ihnen aber wünschen.
Randolf Jessl ist Inhaber der Kommunikations- und Leadershipberatung Auctority. Er berät, trainiert und coacht Menschen und Organisationen an der Schnittstelle von Führung, Kommunikation und Veränderungsanliegen. Zusammen mit Prof. Dr. Thomas Wilhelm hat er bei Haufe das Buch " Shared Leadership" veröffentlicht.