Als in unserer Wirtschaft noch Partystimmung herrschte, waren alle berauscht von Innovation: höher, schneller, weiter, disruptiv und mit dem Anspruch, die Welt zu verändern. Koste es, was es wolle. Techno-Giganten aus dem Silicon Valley oder ambitionierte Start-ups gaben das Modell hierfür ab.
Dann kam Corona. Jetzt zogen wieder Überlebensfragen in die Meetings ein. Reichen die Rücklagen, wie entwickelt sich der Cash Flow, finden unsere Produkte künftig noch Absatz, wohin entwickelt sich der Markt? Gut funktionierende Bestandsgeschäfte sicherten die Existenz.
Ambidextrie: Bestandsgeschäft und Zukunftsinitiativen
Zeit, darauf hinzuweisen, dass überlebensfähige Unternehmen beides brauchen: Bestandsgeschäft, das Rendite abwirft und damit die Mittel erwirtschaftet, die in Innovation gesteckt werden. Und Zukunftsinitiativen, die erst einmal Geld kosten, aber die die Märkte, Kunden und Gewinne von morgen in den Blick nehmen. Sie sind es auch, die auf lange Sicht den Bestand des Unternehmens sichern.
Wie aber gelingt dieser Spagat? Und was können Führungskräfte und Mitarbeiter dafür tun, dass er gelingt? Diverse Forschungsrichtungen, die sich unter dem Schlagwort "Ambidextrie" ("Beidhändigkeit") vereinen, gehen dieser Frage nach. Sie bezeichnen die auf Effizienz getrimmte Seite des Unternehmertums als "Exploit-Modus" und die auf Kreativität und Innovation fokussierte Seite als "Explore-Modus".
Spannungsfelder zwischen "Exploit-" und "Explore-Modus"
Beides aus einer Hand zu managen ist etwa so anspruchsvoll, wie zwei Hasen gleichzeitig nachzujagen. Gegensätzliches ist unter einen Hut zu bringen, und zwar auf Ebene der Menschen, die führen und folgen, wie auch auf der Ebene der Organisation, die der Innovation genauso wie der Kosteneffizienz förderlich sein soll.
Jede Menge Spannungsfelder tun sich auf: Managt man die Innovation in isolierten Einheiten wie Akzeleratoren oder Innovation Hubs, wo Freiraum und Kreativität herrschen, während im Routinegeschäft alles auf Kosteneffizienz und qualitätsförderliche Prozesse hin getrimmt wird? Oder versucht man beides eng aneinanderzubinden, damit das große Ganze nicht aus dem Blick gerät und der Transfer von einem Bereich in den anderen besser gelingt?
Braucht es für beide Welten unterschiedliche Menschentypen – sowohl auf Führungs- wie auf Mitarbeiterebene? Hier Chefs, die anleiten, kontrollieren und steuern. Dort Visionäre, die Potenziale sehen, Kreativität entfesseln und Gruppenprozesse moderieren? Hier Experten, die Routinen abarbeiten und Vorgaben umsetzen? Dort die Nerds, die das Undenkbare denken und das nie Dagewesene ausprobieren?
Kann man beide Welten überhaupt in einer Person vereinen? Perfektionismus und Entdeckergeist? Analytisch im Hier und Jetzt und gleichzeitig kreativ und visionär mit Blick auf die Zukunft? Fehler suchen und ausmerzen und gleichzeitig Neues ausprobieren und Experimente fahren? Die Meinungen dazu gehen auseinander.
Es braucht beides: Effizienz und Innovation
Eines aber ist für mich gesetzt: Keine Organisation kann es sich leisten, das eine gegen das andere auszuspielen oder eine dieser beiden Welten zu vernachlässigen. Und gerade auf der Ebene, wo Geschäfte geführt und über die Unternehmensentwicklung entschieden wird, sollten Manager beides im Blick behalten.
Noch steht die Forschung erst am Anfang. Es scheint aber wenig dagegen zu sprechen, dass Menschen beide Welten in sich tragen und beides leben können. Allerdings hat die Forschung gezeigt, dass Organisationen dazu neigen, ihre Routinen zu verfestigen und damit Schlagseite zur effizienzgetriebenen Welt zu entwickeln (Der "Explore/Exploit-Trade-off" wird in einem Blog schön von der Ambidextrieexpertin Gudrun Töpfer erklärt). Denn Fehler muss man sich leisten können, Freiräume muss man erst schaffen, Kreativität muss man zulassen.
Laut einer aktuellen Studie von Kienbaum bescheinigen sich nur fünf Prozent der befragten Führungskräfte eine "fortgeschrittene beidhändige Führung". Darunter verstehen die Studienautoren die Fähigkeit, überdurchschnittlich gut exploitatives und exploratives Führungsverhalten an den Tag zu legen. In dieser Hinsicht besteht also noch Verbesserungspotenzial, aber die Lösung liegt für mich anderswo.
Ein- oder beidhändig führen? Das ist nicht die Frage
Wir sollten Menschen nicht um jeden Preis auf beidhändiges Führen verpflichten – viel wäre schon gewonnen, wir würden in den Unternehmen stärker mit zwei Gehirnhälften denken und die Spannungsfelder aus "exploit" und "explore" im Alltag wie in Strategiediskussionen berücksichtigen.
Dann ginge es vorrangig darum,
- Bewusstsein für die unterschiedlichen Herausforderungen im "Explore- und Exploit-Modus" zu schaffen.
- Organisationen auf ihre exploitativen wie explorativen Bereiche und Herausforderungen hin zu durchleuchten.
- das Denken und Handeln aller im Unternehmen auf die Herausforderungen in den unterschiedlichen Welten zu schulen.
- Instrumente der Planung, Steuerung, Führung, Entwicklung sowie des Lernens und der Wissensvermittlung besser auf diese unterschiedlichen Welten hin auszurichten und bewusster einzusetzen.
- Präferenzen und Prädispositionen der Menschen, gleich ob formale Führungskraft oder Mitarbeiter, für eine der beiden Welten zu berücksichtigen und zu nutzen.
Deshalb gilt für Top-Manager an der Unternehmensspitze, aber auch nur für die: Beide Hände fest ans Steuer, wenn es darum geht, Effizienz- und Zukunftsgeschäfte gleichzeitig zu sichern! Alle anderen sollten zumindest verstehen, warum es Links- und Rechtshänder im Unternehmen gibt und keiner besser oder schlechter als der andere ist.
Randolf Jessl ist freier Journalist und Inhaber der Kommunikations- und Leadershipberatung Auctority. Er unterstützt Menschen in Organisationen und auf Märkten, dank ihres Wissens und ihrer Ideen in Führung zu gehen.