Warum Chefs keinen Change predigen sollten


Kolumne Leadership: Chefs sollten keinen Change predigen

Führen und Folgen sind die Grundlage gelingender Zusammenarbeit. Doch ihre Voraussetzungen unterliegen dem Wandel. Unser Kolumnist Randolf Jessl beleuchtet diesmal die Frage: Wie verändert man das Verhalten ganzer Gruppen?

Change ist ein Dauerbrenner im Management. Führungskräfte ändern Strategien, Strukturen oder Leitbilder und erwarten, dass andere mitziehen. Sie werben für den Wandel und übernehmen die Verantwortung. Es geht um viel – und vor allem um das Bohren dicker Bretter. Denn, wie schon der Neurobiologe Gerhard Roth in seinem Standardwerk "Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten" (Stuttgart, 2007) ausführte: Es ist verdammt schwer, sich und andere zu ändern. Unser Gehirn liebt das Gewohnte, Sichere und Erprobte.

Kein Wunder also, dass Change-Projekte schnell zu Großprojekten mutieren. Eine ganze Industrie aus Beratern, Kommunikationsagenturen und Veränderungsbegleitern hat sich um diese Herausforderung herum gebildet. Sie coachen interne Change Agents, konzipieren Info-Kampagnen, planen Events und penetrieren Botschaften.

Wo die Change-Industrie irrt

Doch das führt schnell auf den Holzweg, wie der US-amerikanische Soziologe Damon Centola von der Annenberg School of Communication an der University of Pennsylvania nahelegt. In seinem eben erschienenen Buch "Change. How to make big things happen" (John Murray, London 2021) bearbeitet er die Frage nach Verhaltensänderungen ganzer Gruppen mit dem Instrumentarium der Netzwerkforschung. Vier Punkte stechen hervor.

Irrtum eins: Wandel wird vom Spitzenpersonal angestoßen

Richtig ist: Verhaltensänderungen ganzer Gruppen gehen nicht von der einflussreichsten und exponiertesten Person in einer Gruppe aus, sondern von den Rändern großer Gemeinschaften. Das zeigt Centola unter anderem am Beispiel der ägyptischen Revolution im Frühling 2011. Nicht der Aufruf einer beliebten Influencerin in sozialen Netzwerken trieb damals die Menschen auf den ägyptischen Tahir-Platz zu Protesten. Erst viele kleinere Aufrufe ein paar Tage später in unterschiedlichen lokalen Freundeskreisen erzielten diesen Effekt. Der Grund: Erst die persönliche Nähe zwischen denen, die zur Aktion aufriefen, und denen, die ihnen folgten, brachte die Menschen in Bewegung.

Irrtum zwei: Wandel wirkt ansteckend wie ein Virus

Richtig ist: Was das Verhalten einer Gruppe ändert, gehorcht anderen Gesetzen als das, was sich in Netzwerken "viral verbreitet". Eine zentrale Person mit viel Einfluss und Reichweite kann zwar Information oder Unterhaltsames schnell und effizient verbreiten. Für Botschaften, die zum Bruch mit Gewohntem aufrufen oder mit Risiken verbunden sind, gilt das nicht. Damit Menschen sich diesen Zumutungen aussetzen, müssen sie viele, immer wiederkehrende Impulse aus verschiedenen Ecken bekommen. Das leuchtende Vorbild eines Günther Jauchs, der sich in Anzeigen öffentlichkeitswirksam für die Corona-Impfung einsetzt, bewegt keine Skeptiker dazu, es ihm gleichzutun.

Irrtum drei: Wandel braucht breite Aufmerksamkeit

Richtig ist: Verhaltensänderungen brauchen einen geschützten Raum. Denn alle, die das Neue ausprobieren und gutheißen, setzen sich den Bedenken oder gar den Anfeindungen der Mehrheit aus. Das bringt jede aufkeimende Dynamik schnell zum Erliegen. Centola zeigt das an Beispielen, wie sich neues Saatgut in Amerika oder Geburtenkontrolle in Korea durchsetzten. Das gelang nicht durch Kampagnen, die für das Neue warben. Auch Entsandte, die die Vorzüge dieser Neuerungen anderen anpriesen, hatten keinen Erfolg. Vielmehr wuchs die Akzeptanz in abgeschotteten Experimentierräumen, wo Menschen sich mit Gleichgesinnten über das Neue austauschten, es erfolgreich ausprobierten und in ihren Kreisen weiterempfahlen.

Irrtum vier: Wandel ist ein kontinuierlicher Prozess

Richtig ist: Wenn ein neues Verhalten sich weit genug verbreitet hat (die Forschung geht von 25 Prozent der Zielgruppe aus), dann bricht sich die Veränderung mit Wucht Bahn. Das Neue tritt so häufig auf, dass sich auch Skeptiker mit ihm befassen müssen. Centola zeigt das am Beispiel der Begrüßung mit der Faust statt mit dem Handschlag. Je öfter man damit konfrontiert wird, desto dringlicher wird es, beim nächsten Treffen zu entscheiden: Faust oder Hand? Und mehr noch: Je mehr Menschen die Faust benutzen, desto geringer sind die Risiken, mit der geballten Faust bei der Begrüßung negativ aufzufallen.

Genau hier liegt der Clou! Auch wenn unsere Gehirne träge sind: Zu erleben, dass andere sich ändern, kann zögerliche Menschen doch dazu bewegen, das eigene Verhalten zu ändern. Solarpanele verbreiten sich dort, wo paar Nachbarn sie schon auf dem Dach haben.

Fazit: Sechs Empfehlungen für Change im Unternehmen

Übertragen auf Unternehmen, heißt das für Change-Projekte:

  1. Rüstet den CEO ab! Sie oder er kann Ziele kommunizieren, ein gewinnendes Zukunftsbild und eine Story liefern, mehr aber auch nicht. Die Veränderung wächst von den Rändern der Unternehmung aus.
  2. Vergesst überbordende Kampagnen und Motivationsevents! Wenn sie sich nicht auf Dinge beziehen, die ohnehin Konsens sind, gilt: Im besten Fall werden sie belächelt, im schlimmsten Fall fördern sie Zynismus und Spott.
  3. Schützt die Innovatoren! Was immer entstehen soll, lasst Freiwillige das Neue im geschützten Raum testen. Wenn es sich bewährt, werden diese Menschen die engagiertesten und glaubwürdigsten Botschafter sein.
  4. Setzt auf Nähe! Menschen, die sich kennen und verstehen, entwickeln in den genannten Inkubationsräumen schneller und nachhaltiger Mut zur Veränderung. Auch sollten sie auf Dritte, denen sie von den Neuerungen erzählen, nicht als abgehobene Elite, sondern als "welche von uns" wirken.
  5. Schafft vielfältige Verbindungen! Nehmt Einfluss, dass das Neue in möglichst gemischten Gruppen entsteht, die über vielfältige Verbindungen in die Organisation und aus ihr heraus verfügen. So bleiben die Impulse nicht im Silo stecken.
  6. Erschafft nicht künstlich Change Agents von oben herab! Gebt vielmehr Menschen, die das erwünschte Neue aus Eigenantrieb leben, Raum und Bühnen. Lasst sie (über Workshops, Erfahrungsgruppen usw.) in vielfältigen und intensiven Austausch mit den übrigen Menschen im Unternehmen treten.

Zu guter Letzt: Habt Geduld! Die Veränderung von Verhalten, das Neuverschalten im Gehirn, braucht Zeit. Gibt man sie den Menschen, dann hat die Verhaltensänderung Bestand.


Randolf Jessl ist freier Journalist und Inhaber der Kommunikations- und Leadershipberatung Auctority. Er unterstützt Menschen und Organisationen, die etwas bewegen und in Führung gehen wollen.