Eigentlich wollte ich auf dieses Buzzword in dieser Kolumne nicht eingehen: "Digital Leadership". Denn Leadership ist für mich Leadership, egal welches Adjektiv man ihm voranstellt. Aber die Erfahrungen durch die aktuelle Corona-Pandemie, die die meisten von uns ins Homeoffice gezwungen und den Kontakt zur Außenwelt fast ausschließlich auf digitale Kanäle verlagert hat, hat mich umdenken lassen. Es ist doch einiges anders und besonders, wenn wir digital führen und zusammenarbeiten.
Also legen wir los! "Digital Leadership" sei hier als die besondere Spielart von Führung verstanden, die sich in einer hochgradig digitalisierten Umwelt bewährt. Auch in dieser betrifft sie zwei Dimensionen: zum einen die Personen, die führen und folgen, zum anderen den organisatorischen Rahmen, innerhalb dessen das geschieht. Menschen, die sich mit diesen Fragen beschäftigen, sprechen daher auch treffend vom Zusammenspiel von "mindset, skillset, toolset" (Einstellungen, Fähigkeiten, Handwerkszeug).
Wie sich Kommunikation verändert
Beginnen wir mit der persönlichen Dimension. Gerade Kommunikation fühlt sich virtuell anders an und funktioniert auch anders als im Austausch von Angesicht zu Angesicht. Das erleben wir in unserer Selbstisolation derzeit intensiv. Textbotschaften gewinnen an Bedeutung, man erlebt das Gegenüber bestenfalls über Videoschaltungen. Körperliche Präsenz und alle mit ihr verbundenen Signale sind auf ein Minimum reduziert.
Der Austausch droht gerade über Mail, Messenger-Dienste und Ticket-Systeme zur Einwegkommunikation, zum puren Senden zu werden. Dies kann zu jeder Tages- und Nachtzeit geschehen, die Hürden der Beauftragung und Kontaktaufnahme sinken. Zugleich ebnen sich ein Stück weit Statusunterschiede ein. Im Strom des Chatverlaufs hat man genau eine Stimme. Der formale Rang verliert an Bedeutung oder muss aufwändig über Textbotschaften markiert werden.
Zudem gewinnt jede Intervention an Gewicht. Wo man sich in analogen Konferenzen räuspern oder hörbar seufzen kann, ist man in digitalisierter Kommunikation auf stärkere Eingriffe angewiesen. Und alle Äußerungen, Einwände, Einschätzungen werden dokumentiert. Das erhöht die Hemmschwelle, sich einzubringen. Auch stellt sich vor diesem Hintergrund für formale Führungskräfte noch schärfer die Frage, wen man wann in welches Thema einbezieht. Der informelle Austausch auf dem Flur entfällt.
Warum wir jetzt reflektierter führen und folgen müssen
"Digital Leadership" erfordert daher, noch bewusster und reflektierter zu kommunizieren als in der analogen Arbeitswelt. Emotionen können über grafische Symbole, die Emojis, zum Ausdruck gebracht werden – und bleiben doch ein schales Abbild ihrer körpersprachlichen Vorbilder. Persönliche Gespräche, möglichst mit Stimme und auch mit Bild sowie möglichst über mehr als die Arbeit, gewinnen noch einmal an Bedeutung. Und weil alles ungewohnt, teils technisch unausgereift und in anderer Intensität und Frequenz abläuft, gilt es noch genauer hinzuhören und zwischen den Zeilen zu lesen, als in der analogen Welt.
Wie sich Kultur verändert
Unter solchen Bedingungen wird Arbeit transparenter, Kommunikation schneller, engmaschiger und kurzatmiger sowie das Miteinander partizipativer, schlechtenfalls aber auch unpersönlicher. Willkommen in der Kultur der digitalisierten Arbeitswelt! Das erfordert auf individueller Ebene eine entsprechende Haltung ("mindset") und neue Kompetenzen ("skillset"), auf organisatorischer Ebene neue Regeln und andere Strukturen.
Zur Haltung: Alle Beteiligten sollten mehr Wert auf Inhalt und Beziehung legen als auf Rang und Status. Führen heißt, Gefolgschaft finden und nicht in erster Linie Chef sein. Sie sollten die neue Transparenz schätzen und achten sowie sich des Verfließens von Grenzen bewusst sein und damit sensibel umgehen.
Die neuen Kompetenzen bezeichnen Evangelisten der Digitalisierung gern als "Digital Literacy". Gemeint sind Fähigkeiten, die neuen Tools zu bedienen und sich in digitalen Welten angemessen zu verhalten. Und damit kommen wir zum organisatorischen Rahmen.
Welche Regeln dabei entlastend wirken
Dieser wird bestimmt vom "toolset". Das Handwerkszeug sollte mit Bedacht ausgewählt werden. Was folgt aus ihm – gerade mit Blick auf Überwachung, auf zwischenmenschlichen Austausch, auf Entgrenzung von Arbeit und Privatleben, von Arbeits- und Freizeit? So führt die Entscheidung, über das häufig auch privat genutzte Whatsapp zu kommunizieren unweigerlich dazu, dass sich berufliche Nachrichten mit privaten Nachrichten vermischen.
Wichtig ist auch: Je ungewohnter die neue Infrastruktur und die mit ihr einhergehende Kultur sind, desto entlastender wirken Regeln und Prozesse auf Führungskräfte wie auch auf Teams. Wie oft und wann konferieren wir? Was ist ok an Dingen, die wir in analogen Situationen nicht akzeptiert hätten (Interventionen in Gruppenchats, An- und Abwesenheiten)? Was wollen wir bewusst vermeiden und wie schaffen wir das (Infoüberflutung, Missachtung von Ruhezeiten)? Wie pflegen wir das Miteinander digital und virtuell?
Warum "Digital Leadership" ein Übergangsphänomen ist
Haben wir das verinnerlicht, dann werden wir "Digital Leadership" vielleicht im Rückblick einmal als Übergang zu einer neuen Kultur der Zusammenarbeit empfinden. In dieser Kultur ist "digital" dann ein Stück weit "normal" und fühlt sich gar nicht mehr so digital an. Spätestens dann, wenn der Kollege als holografisches Gebilde bei mir im Raum sitzt oder ich die Gruppenkonferenz mit der Virtual Reality-Brille verfolge.
Das Schönste daran: Jeder von uns wird nach dieser Umbruchphase reflektierter und mit neuer Haltung führen und folgen. Das allein wäre ein Fortschritt.
Randolf Jessl ist freier Journalist und Inhaber der Kommunikations- und Leadershipberatung Auctority. Er unterstützt Menschen in Organisationen und auf Märkten, dank ihres Wissens und ihrer Ideen in Führung zu gehen.