Menschen wollen sich entfalten, dazulernen und möglichst selbstbestimmt arbeiten. Diese Überzeugung, die durch Studien gut belegt ist, durchzieht bislang alle meine Kolumnen. Heißt das aber automatisch, dass diese Menschen auf Augenhöhe geführt werden wollen? Müssen ihre Chefinnen und Chefs deshalb den Ersten unter Gleichen geben und eher moderieren als anweisen?
Leser meiner Kolumne könnten diesen Eindruck bekommen. Deshalb ist es Zeit für eine Richtigstellung. Denn so einfach ist es nicht. Die Erwartung daran, wie dominant und distanziert in Gruppen geführt werden soll, differiert von Mensch zu Mensch. Sie wird von individuellen Einstellungen und soziokulturellen Faktoren beeinflusst.
Die Frage nach der Machtdistanz in der Führung
Hierfür hat der holländische Sozialpsychologe und Organisationsforscher Geert Hofstede bereits in den 1970er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wichtige Anhaltspunkte geliefert. Er untersuchte, welchen Anteil nationale Kultur, soziales Milieu und Bildung daran hat, dass Menschen eine ungleiche Verteilung von Macht akzeptieren. Er stützte sich dabei auf Daten aus Mitarbeiterumfragen von IBM in 50 Ländern.
Das Maß hierfür nennt Hofstede "Machtdistanz" (power distance) – und diese Machtdistanz ist in den deutschsprachigen und skandinavischen Ländern besonders gering ausgeprägt. In einigen asiatischen, lateinamerikanischen und osteuropäischen Ländern ist sie besonders hoch.
Liegt eine hohe Erwartung an "Machtdistanz" vor, dann akzeptieren Menschen eher Hierarchien, tolerieren große Gehaltsunterschiede, setzen Privilegien und Statussymbole bei Führungskräften geradezu voraus und fordern einen auf Anweisung und Kontrolle basierenden Führungsstil ein.
Wohlwollende Autokraten, einfallsreiche Demokraten
Das Ideal des Chefs ist laut Hofstede in solchen Kulturen mit großer Machtdistanz der "wohlwollende Autokrat". In Kulturen mit gering ausgeprägter Machtdistanz dagegen sei der ideale Vorgesetzte einer, den Hofstede als "einfallsreichen Demokraten" bezeichnet.
Doch nicht nur die geografische Herkunft beeinflusst, wie Menschen zu Macht und Führung stehen. Hofstedes Daten zeigten ebenso deutlich, dass über alle Länder hinweg Berufsgruppen mit niedrigem gesellschaftlichen Status und geringem Bildungsniveau die höchsten Machtdistanzwerte aufwiesen.
In anderen Worten: Menschen mit geringer Bildung erwarten eher Dominanz und Distanz im Verhältnis derer, die führen, zu denen, die folgen. Menschen mit hoher Bildung lehnen beides eher ab. "Augenhöhe" ist deshalb kein Führungsrezept für jede Lebenslage und jede Gemengelage.
Führen auf Augenhöhe kann verunsichern
Das zeigt auch eine Feldstudie, die amerikanische Forscher jüngst in 72 Teams chinesischer IT-Firmen unternommen haben. ("Leader humility and team creativity: The role of team information sharing, psychological safety, and power distance", in Journal of Applied Psychology 103(3), 2018). Hier lernen wir zweierlei.
Erstens: Teamleiter, die bescheiden auftraten sowie die Ideen anderer einforderten und wertschätzten, förderten dadurch den Austausch von Information und die Kreativität ihrer Mitarbeiter bei der Lösungsfindung. Zweitens: Dieser positive Effekt stellte sich aber nur in den Teams ein, die eine geringe Machtdistanz erwarteten.
In jenen Teams, die eher eine dominante und distanzierte Führung von ihren Team Leads erwarteten, ging der Schuss nach hinten los. Hier zweifelten die Teammitglieder an der Führungsstärke ihres Vorgesetzten und zögerten sogar, Initiative zu ergreifen und sich mit eigener Meinung und eigenen Ideen einzubringen.
Wie man "Augenhöhe" kalibriert
Deshalb empfehlen die Forscher um Jia Hu den Führungskräften, die auf Augenhöhe führen und so Kreativität und Austausch fördern wollen: Erst einmal die Erwartungen an Machtdistanz ausloten.
Praktisch betrachtet heißt das für mich:
- Hofstedes Erkenntnisse zu Kultur, Milieu und Bildungshintergrund einbeziehen, wenn Sie als Führungskraft den Grad an "Augenhöhe" zwischen Ihnen und den von Ihnen geführten Menschen bestimmen wollen.
- Im Team thematisieren, wie Führen und Folgen gelebt werden sollen – zumindest dort, wo man einen reflektierten Umgang mit Machtdistanz voraussetzen kann.
- Hinterfragen, wie viel "Augenhöhe" die gemeinsam zu bewältigende Aufgabe überhaupt erfordert: Ist sie komplex genug, dass sie von Wissensaustausch und Kreativität bei der Lösungsfindung und Umsetzung überhaupt profitiert?
Mein Merksatz zur Machtdistanz lautet: Führen auf Augenhöhe taugt solange nicht, wie Menschen gerne zu anderen hinaufschauen. Der Umkehrschluss aber gilt auch. Führen ohne Augenhöhe schadet dann, wenn Menschen es nicht mögen, dass andere auf sie herabschauen.
Randolf Jessl ist freier Journalist und Inhaber der Kommunikations- und Leadershipberatung Auctority. Er unterstützt Menschen in Organisationen und auf Märkten, dank ihres Wissens und ihrer Ideen in Führung zu gehen.