Die Chefin, der Chef: Wenn es diese Funktion nicht gäbe, dann müsste man sie eigentlich erfinden. Denn sie macht das Leben und vor allem die Zusammenarbeit so viel einfacher. Hierarchien strukturieren Gemeinschaften und schaffen – zumindest vordergründig – klare Verhältnisse. Wer hat hier das Sagen? Wer führt, wer folgt? Und wer trägt die Verantwortung und stellt sich vor die Mannschaft, wenn die Luft dünn wird?
Doch auch die Schattenseiten sind uns vertraut: Hierarchien verleiten Mitarbeiter dazu, Verantwortung nach oben zu delegieren und Kreativität sowie Kritik zurückzuhalten. Bosse wiederum betreiben Basta-Politik, treffen falsche Entscheidungen (oder gar keine), weil sie zu weit weg vom Geschehen sind. Und nicht selten fühlt sich das Führungspersonal als etwas Besonderes und verliert den Draht zu Basis.
Auch unter Gleichen schälen sich informelle Chefs heraus
All das wollen selbstorganisierte Gruppen vermeiden. Sie verteilen Aufgaben und Verantwortlichkeiten untereinander auf Augenhöhe und je nach Sachlage. Doch kommen sie ohne Führung und Statusunterschiede aus? Soziologische Studien haben früh darauf hingewiesen: Nein, das tun sie nicht.
Am Beispiel einer selbstverwalteten Druckerei haben Wolfgang Sofsky und Rainer Paris („Figurationen sozialer Macht. Autorität, Stellvertretung, Konflikt“,1994) gezeigt: Auch hier bilden sich Chefs heraus und nehmen eine exponierte Stellung ein. Das geschieht in einem zähen Prozess, der Kraft und Zeit kostet. Aufgrund ihrer Sachautorität, weil sie unersetzbar scheinen und über ein Auftreten verfügen, das andere beeindruckt, wachsen einzelne in die Führungsrolle hinein.
Gerade „das Auftreten“ gewinnt in selbstorganisierten Kontexten an Bedeutung. Während in einer formalen Hierarchie das Führungspersonal aufgrund seiner „Amtsautorität“ über Status verfügt und sich in solchermaßen „geordneten Verhältnissen“ den Sachfragen widmen kann, müssen sich informelle Führungspersonen ständig beweisen, andere überzeugen und die Gefolgschaft der übrigen sicherstellen. Anders ausgedrückt: Sie müssen ihren Status permanent demonstrieren und festigen. Das hat Folgen.
Weniger Hierarchie führt zu mehr Statusverhalten
So droht in selbstorganisierten Gruppen genau das Einzug zu halten, was diese gerade ausmerzen wollten. „Weniger Hierarchie führt zu mehr Statusverhalten“, stellt Johannes M. Lehner von der Johannes Kepler Universität in Linz fest ( „Statusverhalten in der Organisation im Spannungsverhältnis von formaler und informaler Hierarchie“, 2009).
Und worin besteht dieses Verhalten? Dazu hat Lehner die verfügbaren empirischen Studien ausgewertet und eine beeindruckende Liste erstellt. Hier einige Auszüge daraus:
- Machtvolle, laute Sprache: Beschränkungen, Einfügungen werden vermieden, hohe Selbsterwartungen formuliert, Emotionen geweckt.
- Charismatische Sprache: Metaphern und Geschichten durchziehen den Vortrag und übergeordnete Ziele und Werte werden betont.
- Räumliches Verhalten: Weite Gesten und die sprichwörtliche Vereinnahmung des Raums gehören hierzu.
- Körperverhalten: Augenkontakt wird gesucht, Kopf wird aufrecht gehalten, die verwendeten Gesten strahlen Ruhe aus.
- Symbolische Handlungen: Hierunter fallen Dinge wie, sich nur mit anderen zu zeigen, Geschenke zu machen, Ehrenämter zu übernehmen – aber auch Selbstdarstellung, Statussymbole und sich im Glanze anderer zu sonnen.
Ob man ein solches Verhalten nun gut oder schlecht findet: Menschen beurteilen nachgewiesenermaßen anhand dieser Signale, ob jemand sich exponieren kann und will. Sollte das aber im Mittelpunkt des Alltags und der Aufmerksamkeit stehen? Eher nicht.
Wie man Statusfragen klein hält
Was also tun? Für mich folgt daraus zweierlei. Erstens: Wir sollten die klassische Chefin, den klassischen Chef nicht vorzeitig aufgeben. Wird diese Rolle mit Anstand, Können und Selbstreflexion ausgefüllt, trägt sie weiterhin in vielen Zusammenhängen zu hervorragender Zusammenarbeit bei. Vor allem aber erspart sie Gruppen, ständig auf Status zu schielen, und informellen Führungskräften, ständig Status zu demonstrieren.
Zweitens: Wo Menschen ohne formale Hierarchien und etablierte Führungspersonen zusammenarbeiten, sollten sich alle der Statusproblematik bewusst werden und ihr nicht zu viel Platz einräumen. Denn im Vordergrund jeder Führungsentscheidung sollte stehen, wer das nötige Wissen und Können, ausreichend Energie sowie genügend Leidenschaft hat, in dieser oder jener Situation die Richtung zu weisen und Verantwortung zu übernehmen.
Von der Jazzband lernen
Gute Zusammenarbeit auf Augenhöhe gelingt deshalb am ehesten, wenn
- die Gruppe sich klar macht, was die Erfordernisse des gemeinsamen Auftrags sind und wer dabei worin die Führung übernehmen kann,
- der Prozess, wie jemand in Führung geht (durch Ansage, durch Akklamation, durch Wahl), bewusst gestaltet und
- der Gruppe die Chance gegeben wird, ihre innere Ordnung auf längere Zeit zu stabilisieren. Hierzu tragen definierte Aufgaben, Verantwortlichkeiten und eine nach innen wie außen erkennbare Struktur (Regeln, Rollen, Titel) enorm bei.
Eine optimal „eingegroovte“ Jazzband kommt ohne exponierten Dirigenten und seinen Taktstock aus. Das heißt aber nicht, dass Führen, Folgen und Status in dieser Formation keine Rolle spielen. Sie sind nur durch eingeübtes Zusammenspiel, einen durch das Stück vorgegebenen Handlungsrahmen und ein ausgebildetes Gespür aller Musiker, wann sie führen und wann sie folgen müssen, zur Selbstverständlichkeit geworden. Alle Energie kann jetzt dahinein fließen, mitreißende Musik zu machen.
Randolf Jessl ist freier Journalist und Inhaber der Kommunikations- und Leadershipberatung Auctority. Er unterstützt Menschen in Organisationen und auf Märkten, dank ihres Wissens und ihrer Ideen in Führung zu gehen.