Das verwackelte Handy-Video ging um die Welt. Bis heute wurde es über 15 Millionen Mal auf YouTube aufgerufen. Was es aussagt, wird in Leadership-Seminaren leidenschaftlich diskutiert. „The Dancing Guy“ zeigt einen jungen Mann, der bei einem Musikfestival im US-Bundesstaat Washington zu tanzen beginnt und damit eine Bewegung auslöst. Erst ist es ein weiterer Besucher des Festivals, der sich zu ihm gesellt. Nach kurzer Zeit tanzt der ganze Hang.
Der Follower generiert den Leader
Was geht da vor sich? Und was lernen wir daraus fürs Führen und Folgen? Der Musiker, Gründer und bekennende Lebenskünstler Derek Sivers hat 2010 seine Interpretation in einem Ted-Talk auf die Bühne gebracht. Für Sievers zeigt sich hier,
- dass einer, der in Führung geht, Mut braucht sich zu exponieren – und dass er dies auf eine so simple Art und Weise tun muss, dass andere ihm leicht folgen können
- dass derjenige, der führt, dringend auf den ersten „Follower“ angewiesen ist – denn der führt vor, wie man in dieser Situation folgt und animiert andere, es ihm oder ihr nachzumachen
- dass Leader und Follower auf Augenhöhe agieren (im Video umarmen sich die beiden): das mache klar, dass es nicht um die Person des Führenden geht, sondern um die Sache als solche („das Tanzen“)
- dass Menschen, die folgen, ab einer gewissen Anzahl wie von selbst weitere anziehen, die ebenfalls folgen: Follower generieren Follower – und je mehr es sind, desto leichter und weniger riskant ist es, sich der Gruppe anzuschließen
- dass Führung überschätzt wird: „Es ist der erste Anhänger, der einen einsamen Verrückten zu einem Anführer macht.“
Es ist kein Wunder, dass das Video samt Derek Sivers Deutung durch die Decke ging. Wichtige Themen der Zeit werden hier angesprochen: Wie entsteht ein „Flashmob“? Wann springt auf eine „Crowd“ der Funke über? Und auch die Botschaften passen in die Zeit: Einfach machen, nicht lange reden! Einander auf Augenhöhe begegnen!
Drei wichtige Lektionen
Doch sind die Erkenntnisse für die Herausforderungen unserer Arbeitswelt wirklich zu gebrauchen? Drei von ihnen auf jeden Fall. Denn zu Recht setzen auch im Unternehmenskontext immer mehr Führungskräfte auf einen „Roll in“ statt einen „Roll out“. Initiativen sollen ansteckend wirken und Mitmacher anziehen. Ziele und Vorgehensweisen von oben zu verordnen, entfaltet demgegenüber weniger Wirkung. Gerade das in der Sozialpsychologie gut erforschte Phänomen der „sozialen Ansteckung“ von Gefühlen und Verhalten, das das Video veranschaulicht, gehört damit zum Handwerkszeug moderner Unternehmenssteuerung – und ersetzt die Weisung, die auf Machtausübung beruht und weniger Dynamik und Verbundenheit erzeugt.
Wichtig und richtig ist auch zu verstehen, wie virale Prozesse funktionieren. Hier veranschaulicht das Video eine Beobachtung, die sich Kampagnenmacher zunutze machen. Sie besagt, dass Dynamik in Netzwerken in einem dreistufigen Prozess entsteht: sie beginnt im „eins zu eins“ (one to one) zwischen First Mover und First Follower, geht über in das „eins zu viele“ (one to many), wenn Follower andere Follower nach sich ziehen, und endet im „viele zu viele“ (many to many), wenn sich die Initiative verselbständigt und einer aktiven Führungsfigur nicht mehr bedarf.
Geradezu hellsichtig sind Derek Sivers Hinweise auf das Dreiecksverhältnis im Führungsprozess. Der wird nämlich immer noch als Austauschprozess zwischen Führern und Geführten missverstanden. In der Tat aber geht es beim Führen und Folgen immer um ein gemeinsames Projekt, eine gemeinsame Aufgabe, auf die sich Führende und Folgende einlassen. Wenn dieses Projekt nicht dazu geeignet ist, sowohl den Führenden wie den Geführten zu motivieren und ihrem Tun einen Sinn zu geben, dann scheitert Führung, dann misslingt die Umsetzung.
Zwei irreführende Analogien
Gerade hier zeigt sich aber, dass der „Dancing Guy“ nur bedingt als „Role Model“ für zeitgemäße Führung in Unternehmen oder anderen komplexen Zusammenhängen dienen kann. Das hat zwei Gründe.
Grund 1: Die Ansteckungseffekte in sozialen Netzwerken unterscheiden sich gemäß neuerer Forschung zur „sozialen Netzwerkanalyse“ je nachdem, worauf sie zielen. Am leichtesten lassen sich Menschen „anstecken“, wenn es um Geselligkeit geht (Tanzen, Feiern, Ausspannen). Zäher wird es, wenn Gefühle (Wut, Heiterkeit, Angst) übertragen werden. Am höchsten aber ist die Schwelle, andere zum Mitmachen oder zur Nachahmung zu bewegen, wenn es gilt, Aufgaben zu erledigen („instrumentelle Unterstützung“). Da kann sich auch ein leicht entflammbarer „Dancing Guy“ als ziemlich resistent erweisen.
Grund 2: Auch die Vereinfachung, auf die Derek Sivers hinweist, ist im Arbeitsleben oft weder möglich noch geboten. Nicht jede Aufgabe lässt sich nach dem Prinzip „einfach mal machen“ anschieben und lösen. Hier muss analysiert, erklärt, begründet werden. Hier reicht es nicht, den Bauch und die Beine der Follower zu erreichen. Auch der Kopf muss überzeugt werden. Denn er soll im Folgenden einen Großteil der Arbeit erledigen.
Ansteckung und Nachahmung genügen nicht
Aus diesem Grunde sind immer auch Kalkül und Taktik geboten, wenn es darum geht, den ersten, zweiten und dritten Follower zu gewinnen. Das Promotorenmodell der klassischen Betriebswirtschaftslehre, das in den siebziger Jahren für die Beschleunigung von Innovations- und Veränderungsprozessen ersonnen wurde, hat hier immer noch seine Bewandtnis.
In vielen Zusammenhängen jenseits des „Dance Floors“ macht es Sinn, wenn sich „first mover“ ihre „first follower“ gezielt unter Menschen suchen, die sich als Machtpromotor (setzt Dinge durch, gibt Ressourcen frei), Fachpromotor (gibt Rat und unterstützt in der Sache) und Beziehungspromotor (stellt Verbindungen her) in das Projekt einbringen. Wenn das Projekt zusätzlich der Mobilisierung einer „Crowd“ bedarf, lässt sich vom „Dancing Guy“ und Derek Sivers allerdings viel lernen.
Randolf Jessl ist freier Journalist und Inhaber der Kommunikations- und Leadershipberatung Auctority. Er unterstützt Menschen in Organisationen und auf Märkten, dank ihres Wissens und ihrer Ideen in Führung zu gehen.