Wie es im "Coffin Corner" nicht zum Absturz kommt
In der Szene der Organisationsentwickler macht gerade ein neuer Begriff aus der Luftfahrt die Runde. Es handelt sich um den "Coffin Corner". Man könnte ihn wörtlich mit "Sarg-Ecke" übersetzen und wenn man den Stabreim ins Deutsche retten will, könnte man "Sarg-Sektor" sagen. Alle Fachleute aus der Fliegerei reden aber nur von dem "Coffin Corner" (laut Duden heißt es tatsächlich "der" Corner).
Wer die ursprüngliche, fliegerische Bedeutung des Begriffs verstehen will, sollte wissen, dass die Luft mit zunehmender Höhe immer "dünner" wird. Ein Flugzeug verbraucht dann weniger Kerosin, da der Reibungswiderstand geringer wird. Möglichst hoch zu fliegen heißt, dass man effizient ist. Das Flugzeug muss gleichzeitig aber auch schneller fliegen, damit die dünnere Luft noch genügend Auftrieb erzeugt.
Maximalgeschwindigkeit ist auch Mindestgeschwindigkeit
Irgendwann kommt die Höhe, wo die Maximalgeschwindigkeit gleichzeitig auch die Mindestgeschwindigkeit ist, wenn man wegen der dünnen Strömung nicht vom Himmel fallen will. Der Punkt der höchsten Effizienz ist erreicht. Auf dieser Flughöhe zu fliegen, ist extrem gefährlich. Jede winzige Änderung der Geschwindigkeit, jede kleinste Luftturbulenz kann dazu führen, dass das Flugzeug einen Tick zu hoch fliegt, die Strömung an den Flügeln abreißt und das Flugzeug mit der Nase nach unten in Richtung Erdoberfläche stürzt.
Der Handlungsspielraum für den Piloten ist extrem eingeschränkt. Den Luftraum knapp unter der maximalen Flughöhe nennt man "Coffin Corner". Hier darf nichts Unvorhergesehenes passieren.
Wer ein Verkehrsflugzeug besteigt, braucht keine Angst vor dem "Coffin Corner" zu haben, denn schließlich bestimmen die Fluglotsen die Flughöhe einer Maschine. Andererseits nehmen die Berufspiloten das Phänomen "Coffin Corner" sehr ernst und üben im Rahmen ihrer Ausbildung den entsprechenden Notfall. Der kann zum Beispiel dann eintreten, wenn der Höhenmesser ausfällt und man aus Versehen steigt statt sinkt.
Manager mit einer Metapher überzeugen
"Den Coffin Corner gibt es nicht nur in der Luftfahrt", sagt Amel Karboul, Organisationsberaterin und Gründerin von "Change, Leadership & Partners". Sie hat gerade ein Buch geschrieben, das den Titel "Coffin Corner – Warum auch die besten Firmen abstürzen können" trägt. Auf sie geht zurück, dass der Begriff "Coffin Corner" jetzt auch als Metapher für Unternehmen genutzt wird, die sich in einer Todeszone aufhalten, wo maximale Effizienz und gleichzeitig maximales Risiko aufeinandertreffen.
"Ausgerechnet dort, wo wirtschaftlich gesehen alles perfekt optimiert ist, besteht die höchste Gefahr", warnt die gebürtige Tunesierin. "Flugkapitäne sind sich dieser Situation bewusst und können entsprechend damit umgehen. Bedauerlicherweise gilt das nicht für die meisten Manager."
Schuld daran, dass ein Unternehmen im übertragenen Sinn im "Coffin Corner" landet, ist die traditionelle, weit verbreitete BWL-Denke, die laut Karboul dringend an unsere heutige Zeit angepasst werden muss. Derzeit neigen viele Unternehmen dazu, ihren Betrieb durch immer besser werdende Arbeitsprozesse und Kontrollmechanismen zu optimieren. Alles ist auf Effizienzsteigerung ausgerichtet: Ein (ehrgeiziges) Ziel wird definiert. Alle verfügbaren Daten werden analysiert. Auf dieser Basis wird ein Plan verabschiedet. Alles, was danach kommt, dient nur dazu, diesen Plan umzusetzen. Abweichungen gibt es keine.
Top-Manager hoffen, dass keine Turbulenzen auftreten
Wenn alles gut geht, dann führt diese Vorgehensweise zu großer Effizienz. "Gleichzeitig aber verlieren die Unternehmen ihre Flexibilität", warnt Karboul. Da alles geplant und vorprogrammiert ist und Planabweichungen sanktioniert werden, fehlt den Unternehmen der Handlungsspielraum, um schnell auf unvorhersehbare Situationen zu reagieren.
Ähnlich wie ein Pilot muss das Top-Management hoffen, dass bloß keine Turbulenzen auftreten. Im Jahr 1997 beichtete zum Beispiel Hasso Plattner, der Mitbegründer der Softwareschmiede SAP, auf einer Veranstaltung, dass er jahrelang das Internet nicht habe kommen sehen – aller Warnungen einzelner Mitarbeiter zum Trotz. Die permanente Optimierung des Bestehenden habe ihn daran gehindert, gelegentlich auch einmal nach links und rechts zu schauen.
Botschaft: Nie aufgrund einer Alternative entscheiden
Wie kann man verhindern, in den "Coffin Corner" zu geraten? Notwendig ist eine neue Art des Denkens, für die Karboul den Begriff "Granatapfel-Denken" benutzt. Ein Granatapfel hat nicht nur einen Kern, sondern sehr viele unterschiedliche, aber doch gleichwertige Kerne.
Die Botschaft an die Manager: Entscheidet nie aufgrund nur einer Alternative. Es gibt nicht den einen richtigen Weg. Sucht viele unterschiedliche Wege, um ein Ziel zu erreichen und akzeptiert, dass einige Wege kurvig verlaufen oder sogar Umwege sind. Geradlinigkeit war gestern. Karboul: "Das Granatapfel-Denken ermöglicht uns, uns zu öffnen. Wir selbst zu sein. Mensch zu sein."
Und außerdem hilft es dabei, Zweideutigkeiten anzunehmen, Widersprüche zu akzeptieren und beides als Quellen von Inspiration zu betrachten.
Hinweis: Dies ist ein Auszug aus der aktuellen Ausgabe der "Wirtschaft + Weiterbildung". Den kompletten Text sowie ein Interview mit Organisationsberaterin Amel Karboul lesen Sie in Ausgabe 01/2016.
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