Die "Bewerber"-Falle
Seit Jahrzehnten bezeichnen HR-Abteilungen Menschen mit Interesse an einem Jobangebot gewohnheitsmäßig als "Bewerber". Diese Idee stammt aus der Zeit, als Arbeitgeber auf den Arbeitsmärkten noch das Sagen hatten und sich Stellensuchende um die wenigen Jobs streiten mussten. Das Marktumfeld hat sich längst geändert, dennoch halten Arbeitgeber hartnäckig an der Vorstellung fest.
Jobinteressenten sind keine Bewerber
Doch was ist der Unterschied zwischen Bewerbern und Jobinteressenten? Bewerber wünschen sich einen konkreten Job bei einem konkreten Arbeitgeber. Das sind also Menschen, die etwas unbedingt haben wollen und sich längst entschieden haben. Was wir allgemein als Bewerber bezeichnen, sind eigentlich noch gar keine Bewerber, sondern Jobinteressenten. So wie Menschen, die sich über Produkte informieren wollen, noch keine Käufer, sondern Kaufinteressenten sind. Der gedanklich-sprachliche Fehler hat Folgen für die Prozesse: Bewerber habe ich prinzipiell schon gewonnen und muss sie nur noch auswählen – die Prozesse sind selektionsorientiert. Jobinteressenten muss ich zunächst überzeugen – die Prozesse sind angebotsorientiert.
Jobinteressenten müssen erst noch überzeugt werden
Jobinteressenten sind Menschen mit Interesse an einem Job oder einem Berufsbild. Wichtig dabei ist: Selbst, wenn sie schon eine Bewerbung abgeschickt haben, sind sie immer noch reine Interessenten, die für den Job erst einmal gewonnen werden müssen. Denn das Commitment von Jobinteressenten ist viel schwächer.
Verwendet ein Recruiter für diese Personen den Begriff Bewerber, suggeriert er sich fälschlicherweise ein hohes Commitment: "Die haben sich beworben, also wollen die alle unbedingt bei uns arbeiten." Das ist aber nicht der Fall, denn die Jobinteressenten haben sich parallel möglicherweise auch bei zehn anderen Unternehmen beworben und checken vorerst den Markt. Mehr nicht.
Die Folgen für die Recruiting-Prozesse
Hinter der begrifflichen Ungenauigkeit steckt eine dysfunktionale Einstellung zur Sache. Denn Arbeitgeber müssen Jobinteressenten heute viel intensiver bearbeiten als früher die Bewerber. Die Recruiting-Prozesse müssten dieser Logik eigentlich folgen. In der Wirklichkeit sieht es jedoch anders aus.
Dazu ein Beispiel: Ein Jobinteressent wird heute gezwungen, sich zu bewerben, wenn er mehr über den Job und das Unternehmen erfahren möchte. Dadurch wird er plötzlich zum Bewerber. Der Spieß dreht sich scheinbar um, weil der Bewerber aus der Perspektive des Arbeitgebers jetzt liefern muss. Sieht der Recruiter den Bewerber aber tatsächlich als Jobinteressenten an, muss aus dem Bewerbungsgespräch ein Kennenlerngespräch werden, bei dem der Jobinteressent überzeugt und zum "Käufer" gemacht werden muss.
Orientierung an Online-Prozessen
Was für Offline-Prozesse richtig ist, gilt auch für Online-Prozesse. Ähnlich wie ein E-Commerce-Unternehmen müssen Arbeitgeber alle Hebel ansetzen, um Jobinteressenten auf der Seite zu halten. Sie müssen Vertrauen durch positive Bewertungen aus der Zielgruppe schaffen und sie müssen die "Kauflust" der Jobinteressenten wecken.
Ein Vergleich verschiedener E-Commerce-Shops zeigt: Im E-Commerce versuchen die Anbieter, alle relevanten Informationen auf der Produktdetailseite für Kunden zu aggregieren, damit diese die Seite nicht mehr verlassen. Zusätzlich schaffen Bewertungen anderer Käufer Vertrauen bei den Interessenten und beeinflussen deren Kaufentscheidung positiv. Moderne Online-Shops machen es ihren Kaufinteressenten möglichst einfach, ihre Produkte zu bestellen. Das ist im E-Commerce längst als Grundregel akzeptiert. Daran sollten sich auch Recruiting-Prozesse orientieren.
Warum die Candidate Journey neu gedacht werden muss
Die Candidate Journey muss sich an den aktuellen Standards der Customer Journey anpassen. Doch noch ist die Situation eine andere: In der aktuellen Candidate Journey finden Jobinteressenten relevante Informationen wie Arbeitgeberbewertungen oder Gehaltsinfos weder in der Stellenanzeige noch auf der Karrierewebsite. Die Folge: Sie müssen sich die für ihre Kaufentscheidung relevanten Informationen mühsam zusammensuchen, sind gezwungen, die "Kaufseite" zu verlassen und werden erst gar nicht zu Käufern.
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