Dominanz ist das Problem, nicht Macht


Was Dominante von Kompetenten unterscheidet

Führen und Folgen sind die Grundlage gelingender Zusammenarbeit. Doch ihre Voraussetzungen unterliegen dem Wandel. Unser Kolumnist Randolf Jessl beleuchtet diesmal die Frage: Verdirbt Macht den Charakter?

Wo immer Firmenlenker, Politiker oder sonst einflussreiche Menschen sich danebenbenehmen, ertönt schnell der Ruf: "Macht verdirbt den Charakter!" Die Frage ist nur: Stimmt das? Zwei Psychologinnen des University Colleges in London wollten es genau wissen.

Kyoo-Hwa Kim und Ana Guinote haben fünf Experimente mit über tausend Probanden durchgeführt und dabei festgestellt: Es ist nicht die Macht, die korrumpiert. Es ist die Art, wie man an sie gelangt und wie man mit ihr umgeht (Mehr zur Studie:  Cheating at the Top: Trait Dominance Explains Dishonesty More Consistently Than Social Power - Kyoo-Hwa Kim, Ana Guinote, 2021).

"Leading by Dominance" versus "Leading by prestige"

Wie ist das zu erklären? Die beiden Forscherinnen wählten einen Ansatz, der den gängigen Verallgemeinerungen, was Macht ist und wie sie wirkt, entkommt. Sie griffen bei ihren Experimenten auf eine hilfreiche und durch Forschungen von Joey Cheng und Jessica Tracey (University of British Columbia) abgestützte Unterscheidung zurück: Ist jemand der Typ, der dank Dominanz oder dank Prestige zu Macht und Einfluss kommt?

Kommt jemand dank Dominanz an Macht und Einfluss, dann verhält sich die Person tendenziell aggressiv und rücksichtslos, um andere auszustechen, selbst in Führung zu gehen und wieder andere zum Folgen zu bewegen. Die Problematik hat mich bereits mehrfach in dieser Kolumne beschäftigt (siehe "Was uns Trump in Sachen Führung lehrt", "Führung zwischen Machiavelli und Mutter Teresa").

Was Dominante von Kompetenten unterscheidet

Wer dagegen dank Prestige in Führung geht, ist auf solches Verhalten nicht angewiesen. Diese Personen gelangen zu Macht und Einfluss, weil andere sie für kompetent halten und ihrer Autorität gern folgen. Solche Personen werden eher in Führungspositionen gewählt oder berufen. Ihr Erfolg beruht darauf, ihre Kompetenz und Eignung fortwährend unter Beweis zu stellen und andere von sich zu überzeugen. In Verdrängungswettbewerben mit Dominanten ziehen sie schnell den Kürzeren.

Wie Kyoo-Hwa Kim und Ana Guinote in ihren Experimenten nun zeigen konnten, tendieren nur die zu unmoralischem Verhalten, die Dominanzstreben auszeichnet. Rücksichtslosigkeit und Eigennutz bringt sie in Führung, beides prägt ihr Verhalten auch in einer Führungsposition. Bestechen, täuschen, einschüchtern gehören zu ihrem Handwerkszeug, der Drang, sich durchzusetzen, liegt häufig in ihrer Natur.

Macht korrumpiert nicht die Moral

Wer dank Prestige in Führung geht, zeigte die Neigung zur Unaufrichtigkeit nachweislich weniger. Die Sinne dieser Menschen scheinen besser geschärft dafür, was andere an Anstand und Verlässlichkeit von ihnen erwarten. Der Grund hierfür dürfte sein: Sie spüren von Anfang an, wie sehr ihre eigene Stellung vom Urteil ihrer Umwelt (von ihrem Ruf, von ihrem Prestige) abhängt.

Die beiden Forscherinnen kommen daher zum Schluss: "Wenn es uns also so erscheint, als würde Macht den Charakter verderben, dann liegt das daran, dass Dominante in Führungspositionen überrepräsentiert sind." Macht selbst hat ihnen zufolge diese Wirkung nicht. Es gab in einem der Experimente von Kim und Guinote sogar Konstellationen, die zeigten, dass Machtpositionen das Verantwortungsgefühl und moralische Verhalten "der Mächtigen" befördern.

Konsequenzen für das Führen und Folgen in der Praxis

Was also folgt aus diesem Befund? Für mich sind es die folgenden Punkte:

  1. Mehr Leute an die Macht, die über Prestige punkten! Denn ihre Einstellung zu Führung und Moral ist geprägt davon, nicht andere mit allen Mitteln zu dominieren, sondern sie nach bestem Können und Wissen für sich einzunehmen. Sie wollen und müssen ihr Prestige rechtfertigen.
  2. Bessere Selektion und Selektionsprozesse von Menschen auf dem Weg in Führungspositionen und in Machtkonstellationen! Die gebetsmühlenhaft vorgetragenen Appelle an Anstand und Aufrichtigkeit von Führungspersonal gehen am Kern des Problems, nämlich dem tiefsitzenden Dominanzstreben dieser Personen, vorbei. Dieses gilt es einzuhegen.
  3. Mehr Überzeugungswettbewerbe statt Verdrängungswettbewerbe! Wenn es um die Besetzung von Macht- und Führungspositionen geht, fördert der Kampf um die Gunst der Menschen den Wettbewerb der besseren Ideen und der aussichtsreicheren Kompetenzen. Den Kampf um Ressourcen und Posten gewinnen dagegen in der Regel die mit den robusteren Ellbogen.
  4. Führung weniger institutionalisieren und öfter teilen ("shared leadership")! Wenn Macht und Führung einer Person per Amt verliehen wurden, muss sie beides beständig verteidigen – auch wenn Kompetenz und Eignung der Person eigentlich dagegensprechen, dass sie in dieser oder jenen Situation Macht hat und Menschen führt. Das gelingt dann zwangsläufig nur über Dominanz.

Die Erkenntnisse von Kim und Guinote eröffnen neue Horizonte in unserer Führungspraxis. Würden wir die Art, wie wir Menschen in Macht- und Führungspositionen gelangen lassen, nach ihren Erkenntnissen ausrichten, lägen die Chancen gut, dass sich vermehrt die Besseren und nicht die Stärkeren durchsetzen. Noch heute könnten wir damit beginnen.


Randolf Jessl ist freier Journalist und Inhaber der  Kommunikations - und Leadershipberatung Auctority. Er unterstützt Menschen und Organisationen, die etwas bewegen und in Führung gehen wollen.

Schlagworte zum Thema:  Leadership, Mitarbeiterführung