Militärische Kampfmittel im Innern erlaubt
Noch immer schlagen die Wogen nach dem Urteil hoch. Eine Verfassungsänderung durch die Hintertür meckern kritische Politiker während die Entscheidung von den Regierungsparteien eher begrüßt wird. Auch dort wird allerdings kritisch angemerkt, dass die Entscheidung über weite Strecken mit unbestimmten Rechtsbegriffen arbeite, die noch der Konkretisierung bedürften.
Menschenleben sind keine staatliche Manövriermasse
Diesen Grundsatz stellte das höchste Deutsche Gericht im Jahre 2006 unmissverständlich auf. Anlass für diese Äußerung war das im Jahre 2004 unter dem damaligen Innenminister Otto Schily in Kraft getretene Luftsicherheitsgesetz. Dieses Gesetz hob erstmalig die strikte Trennung zwischen Polizei und Militär auf, auch wenn der damalige Innenminister betonte, „dass die klare Grenzziehung zwischen polizeilichen und militärischen Aufgaben nicht aufgegeben wird“. Das Gesetz sah die Möglichkeit vor, ein u.a. mit zivilen Passagieren besetztes Luftfahrzeug mit Mitteln der Luftwaffe zu bekämpfen, sprich: abzuschießen, wenn sämtliche anderen Mittel zur Abwehr eines drohenden Terrorangriffs versagt hätten. Das BVerfG „kassierte“ diese Regelung und stellte klar, dass Menschenleben von Zivilisten keine Rechengröße seien und niemals vom Staat bewusst geopfert werden dürften, auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Abwägung gegen möglicherweise drohende höhere Verluste bei Unterlassen der Maßnahme.
Außergewöhnlich: Einberufung des Gemeinsamen Senats
Der damals zuständige erste Senat des Gerichts ging noch weiter. Er erklärte den Einsatz militärischer Kampfmittel innerhalb der Bundesrepublik, beispielsweise die Bordwaffen eines Kampfflugzeugs, für unzulässig und damit wichtige Teile des Luftsicherheitsgesetzes für verfassungswidrig. Aus Anlass einer Klage der Länder Hessen und Bayern gegen das Luftsicherheitsgesetz wollte der 2. Senat des BVerfG jetzt von den damals aufgestellten Grundsätzen abrücken. Dies war aber nur möglich unter Einberufung des Gerichtsplenums, also des Gemeinsamen Senats. Dessen Einberufung wurde seit der Existenz des Gerichts erst fünf Mal für erforderlich gehalten. Und tatsächlich: In einer spektakulären Entscheidung ist dieser nun von den damals aufgestellten Grundprinzipien teilweise abgerückt.
Streitkräfte als Ersatzpolizei
Der Gemeinsame Senat hat nun erlaubt, dass im Rahmen der Katastrophenhilfe die Streitkräfte auch im Innern polizeiliche Aufgaben übernehmen dürfen. Er hat dabei unmissverständlich klargestellt, dass die Streitkräfte in diesen Fällen sich nicht nur der üblichen polizeilichen Mittel zur Gefahrenabwehr bedienen dürfen. Ihnen ist vielmehr erlaubt (Marine wie Heer), das ihnen zur Verfügung stehende Arsenal zur Bekämpfung einer drohenden Terrorgefahr zu nutzen.
Voraussetzungen (zu) eng gefasst
Als ob die Richter vor ihrer eigenen Courage erschreckt wären, ziehen sie dann aber sofort die Reißleine und stellen das Erfordernis eines solchen Schrittes unter ganz enge Voraussetzungen. Nur in „ungewöhnlichen Ausnahmesituationen katastrophischen Ausmaßes“ dürften beispielsweise Kampfjets eingesetzt werden. Schreckvoll vor Augen stand den Richtern wohl noch der Bundeswehreinsatz beim G-8-Gipfel in Heiligendamm im Jahre 2007. Sie stellten daher in ihrer Entscheidung ausdrücklich heraus, dass Großdemonstrationen einen Einsatz der Bundeswehr grundsätzlich nicht rechtfertigen könnten. Auch auf einen Personalmangel bei der Polizei könne ein Einsatz der Streitkräfte nicht gestützt werden, ebensowenig sei eine permanente militärische Flugabwehr gegen potenzielle Terrorristen zulässig. Offensichtlich wollten die Richter befürchtetem Missbrauch vorbeugen.
Abweichendes Votum
Eine viel kritisierte Einschränkung des Gerichts besteht darin, Voraussetzung eines jeden militärischen Einsatzes im Innern sei eine Entscheidung des gesamten Kabinetts, der Verteidigungsminister allein besitze für eine solche Anordnung grundsätzlich nicht die Befugnis. Dies ist auch nach dem abweichenden Votum des Verfassungsrichters Gaier halbherzig. Eine infolge der erforderlichen Einberufung des gesamten Kabinetts zu späte Entscheidung sei im Fall einer terroristischen Bedrohung die schlechteste aller denkbaren Möglichkeiten. Im Wesentlichen kritisiert Gaier aber, dass der Gemeinsame Senat durch seine Entscheidung den Begriff des „Unglücksfalls“ in Art. 35 Abs 2 Satz 2 GG über vom Menschen unbeeinflussbare Naturkatastrophen hinaus für willkürlich - beispielsweise durch Terroristen – herbeigeführte Schadensfälle entgegen der Absicht des Verfassungsgebers geöffnet habe.
Der gezielte Abschuss von Flugzeugen bleibt rechtswidrig
Auch dies stellte der Gemeinsame Senat klar: Der Grundsatz, dass Menschenleben nicht zum Objekt staatlicher Berechnungen über die Größe der möglichen Verluste auf der einen oder der anderen Seite gemacht werden dürfen, sei unverrückbar.
(BVerfG, Beschluss v. 3.7.2012, 2 PBvU 1/11)
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