BGH spricht JVA-Beamte von der Haftung für von Freigänger begangenem Mord frei
Hätte sie Bestand gehabt, hätte die Entscheidung des LG Limburg weitreichende Auswirkungen auf den Strafvollzug und die dort beschäftigten Beamten - aber auch auf die Häftlinge - gehabt.
Der Entscheidung lag allerdings eine außergewöhnliche Fallkonstellation zu Grunde: Im Dezember 2015 hatte das LG Limburg einen Häftling wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Gegenstand der Verurteilung war eine Straftat, die der Häftling als Freigänger der JVA Dietz begangen hatte.
In Freiheit ein unverbesserlicher Verkehrsrowdy
Der betroffene Häftling saß zunächst in der JVA Wittlich wegen diverser, von ihm begangener schwerer Verkehrsverstöße ein. Der Häftling war bereits 20-fach vorbestraft, größtenteils wegen erheblicher Verkehrsdelikte. Obwohl er schon lange keinen Führerschein mehr besaß, ließ er sich nicht davon abhalten, immer wieder Fahrzeuge im öffentlichen Straßenverkehr zu führen. Bereits mehrfach hatte er sich gefährliche Verfolgungsjagden mit der Polizei geliefert. Während einer solchen Flucht war er in einem Fall bewusst auf eine Polizistin zugefahren.
Ein Mustergefangener in der JVA
In der JVA zeigte sich der Angeklagte dann als Mustergefangener, der sich tadellos führte. Die zuständige Vollzugsbeamtin entschied daher, dem Angeklagten Vollzugslockerungen zukommen zu lassen und ihn als Freigänger zu führen. Hierauf wurde der Angeklagte im November 2013 in die JVA Dietz zum Freigang überstellt. Auch dort benahm der Angeklagte sich nach außen zunächst tadellos.
Der äußere Schein trog
Erst später stellte sich heraus, dass der Häftling den Freigang häufig dazu nutzte, verbotswidrig Auto zu fahren, obwohl er weiterhin keine Fahrerlaubnis besaß.
Während eines Freigangs im Januar 2015 befuhr der Häftling auf dem Weg zurück in die JVA mit einem Fahrzeug die A3 bei Limburg. Einer unvorhergesehenen Polizeikontrolle entzog er sich durch Flucht und fuhr als Geisterfahrer mit hoher Geschwindigkeit auf die B49 in Richtung Weilburg auf. Seine rücksichtslose Flucht durch den Gegenverkehr führte zu einem Verkehrsunfall, bei dem eine junge Frau an den erlittenen Verletzungen starb. Hierauf erfolgte die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe gegen den Angeklagten wegen vorsätzlichen Mordes.
StA erhob Anklage gegen drei Strafvollzugsbeamte
Die zuständige Staatsanwaltschaft klagte darauf drei der nach ihrer Auffassung für diese Abläufe verantwortlichen Strafvollzugsbeamte wegen fahrlässiger Tötung sowie wegen Beihilfe zum Fahren ohne Fahrerlaubnis an.
- Zwei dieser Justizvollzugsbeamten hatte das LG Limburg darauf wegen fahrlässiger Tötung zu einer Haftstrafe von neun Monaten verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.
- Außerdem sollten die beiden verurteilten Beamten 10.000 bzw. 8.000 Euro an eine gemeinnützige Einrichtung zahlen.
- Einer der angeklagten Beamten wurde freigesprochen.
Vollzugslockerungen zu Unrecht gewährt
Nach den Feststellungen des LG waren dem verurteilten Häftling Vollzugslockerungen gewährt worden, obwohl dessen ausgeprägter Hang zu strafbarem Verhalten im Straßenverkehr so offensichtlich gewesen sei, dass die Gewährung des Freigangs für diesen Strafgefangenen einem mit der Materie vertrauten Menschen völlig absurd hätte erscheinen müssen.
- Vor dem Hintergrund der ins Auge springenden besonderen Umständen des Einzelfalls, sei die Entscheidung, Vollzugslockerungen zu gewähren, offensichtlich fehlerhaft und unvertretbar.
- Offenkundige Anzeichen für die Neigung des Häftlings zur Begehung von schweren Straßenverkehrsdelikten seien nicht beachtet worden,
- ebenso wenig die erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit, die von diesem Häftling ausgegangen sei.
- Es sei keine nachvollziehbare Prognoseentscheidung über das Verhalten des Häftlings als Freigänger getroffen worden.
- Der Häftling sei dermaßen häufig im Straßenverkehr durch gefährliches rücksichtsloses Verhalten aufgefallen - in einem Fall sei er sogar vorsätzlich und bewusst auf eine Polizistin zugefahren -, dass von einer sorgfältigen Prüfung der Voraussetzungen für die Gewährung von Vollzugslockerungen nicht im Ansatz die Rede sein könne.
- Insoweit war es nach Auffassung des Gerichts auch unverständlich, dass der in Dietz für den Freigänger zuständige Beamte den Freigang nicht überprüft und überwacht und deshalb nicht bemerkt habe, dass der Häftling den Freigang widerrechtlich zum Autofahren nutzte.
Auch das LG wollte keine Entscheidung gegen den offenen Vollzug treffen
Der Vorsitzende Richter betonte, die Entscheidung wende sich nicht gegen die generelle Zulässigkeit des offenen Vollzugs. In der Regel müssten Justizvollzugsbeamte nicht dafür einstehen, dass Häftlinge im offenen Vollzug Straftaten begehen.
- Ausnahmsweise sei aber eine strafrechtliche Verantwortlichkeit dann anzunehmen, wenn die Entscheidung für Vollzugslockerungen auf einem erkennbar sorgfaltswidrigen Verhalten der Justizbeamten beruhe.
- Die Verletzung dieser Sorgfalt habe im entschiedenen Fall ein außergewöhnliches Ausmaß gehabt.
- Der Häftling sei erkennbar unbelehrbar gewesen.
Man dürfe nur dann jemanden in den offenen Vollzug verlegen, wenn neue Straftaten nicht zu erwarten sind, so der Vorsitzende Richter.
Einer der Beamten war auch nach Auffassung des LG freizusprechen gewesen. Auch dieser Beamte sei in die Entscheidung über die Verlegung in den offenen Vollzug eingebunden gewesen. Er hatte die Vollzugsplankonferenz geleitet, sich dabei aber ausdrücklich gegen die Verlegung des Häftlings in den offenen Vollzug ausgesprochen.
Kritik am LG-Urteil auch vom Bund für Strafvollzugsbedienstete
Schon der Landesvorsitzende des Bundes für Strafvollzugsbedienstete, Winfried Conrad, äußerte sich zu dem Verfahren (LG Limburg, Urteil v. 7.6.2018) äußerst kritisch.
Der #offene #Vollzug in Rheinland-Pfalz und auch in anderen Bundesländern wäre komplett am Ende, wenn #Justizvollzugsbeamte für während des offenen Vollzugs begangene Straftaten #haften.
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Kein Beamter sei bei diesem Risiko künftig mehr bereit, Gefangene in den offenen Vollzug zu überstellen. Auch die Gewerkschaft der JVA-Beamten BSBD prognostizierten angesichts des erstinstanzlichen Urteils das Ende des offenen Vollzugs zumindest in Rheinland-Pfalz.
Vom BGH aufgehobene Urteil hatte Vollzugsbeamte erheblich verunsichert
Es war das erste Mal, dass ein Gericht Justizvollzugsbeamte zur Rechenschaft für Straftaten während des Freigangs zog. Die Strafvollzugsbeamten in Deutschland fühlten sich durch das Urteil verunsichert. In der Justizvollzugsanstalt Dietz war bereits seit Anklageerhebung nur noch ein kleiner Teil der Plätze im offenen Vollzug belegt.
BGH gibt den Justizvollzugsbeamten wieder Rückendeckung
Dieser Verunsicherung der Justizvollzugsbeamten hat der BGH nun gegengesteuert. Im Gegensatz zur Vorinstanz bewertete der BGH das Verhalten der Vollzugsbediensteten nicht als fahrlässig.
- Vollzugsbedienstete hätten bei der Entscheidung, ob sie einem Strafgefangenen offenen Vollzug, Ausgänge und sonstige Lockerungen gewährten, eine schwierige Abwägung zwischen der Sicherheit der Allgemeinheit und dem vom Grundgesetz geschützten Resozialisierungsinteresse des einzelnen Strafgefangenen zu treffen.
- Im konkreten Fall, hätten die Vollzugsbeamten die einschlägigen Landesbestimmungen zum Strafvollzug und zur Gewährung von Vollzugslockerungen rechtsfehlerfrei angewandt.
BGH betont Beurteilungsspielraum der Beamten
Die Beurteilung der Entscheidung über Vollzugslockerungen ist nach Auffassung des Senats „ex ante“, also aus der damaligen Sicht der Vollzugsbeamten zu bewerten. Diese hätten aber aus ihrer damaligen Perspektive sämtliche für die Prognose eines möglichen strafrechtlichen Verhaltens des Gefangenen maßgeblichen Umstände berücksichtigt. Dabei seien sie auch mit der notwendigen Sorgfalt vorgegangen. Ein Anlass, weitergehende Informationen von anderen Stellen einzuholen, habe zum Zeitpunkt der Entscheidung für die Justizbeamten nicht bestanden. Den ihnen zur bei der Entscheidung Verfügung stehenden Beurteilungsspielraum hätten die Beamten nicht überschritten.
Der tragische Fluchtablauf war für die Beamten nicht vorhersehbar
Mit dieser Bewertung kam der BGH nicht zur Beantwortung der Frage, ob die Beamten im weiteren Vollzugsverlauf den gebotenen Kontroll- und Überwachungspflichten ausreichend nachgekommen sind.
Eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung kommt nach dem Diktum des Senats nämlich grundsätzlich nicht in Betracht, wenn das zum Tode führende Geschehen so sehr außerhalb der gewöhnlichen Erfahrung liegt, dass mit ihm nicht gerechnet werden konnte oder musste.
Der vom LG festgestellte Fluchtablauf, während dessen der Strafgefangenengefangene das Mordmerkmal der Gemeingefährlichkeit verwirklicht habe, sei für die Vollzugsbeamten entgegen der diametral entgegengesetzten Auffassung der Vorinstanz nicht vorhersehbar gewesen.
(BGH, Urteil v. 26.11.2019, 2 StR 557/18)
Anmerkung: BGH-Entscheidung mit überwiegend positiver Resonanz
Die in der Resozialisierung tätigen Beamten und auch der Justizminister von Rheinland-Pfalz, Herbert Mertin, begrüßten die Entscheidung des BGH.
Mit diesem Urteil sei eine schwere Verunsicherung der für die Resozialisierung zuständigen Beamten beendet worden.
Vollzugsbeamte dürften bei der Entscheidung über Maßnahmen der Resozialisierung nicht einem unüberschaubaren Strafbarkeitsrisiko ausgesetzt werden.
Andernfalls hätte man Vollzugsbeamten im Grundsatz wegen des damit verbundenen persönlichen Strafbarkeitsrisikos von der Gewährung von Vollzugslockerungen als einem wichtigen und unverzichtbaren Instrument zur Wiedereingliederung von Strafgefangenen in die Gesellschaft im Zweifel abraten müssen. De facto hätte man damit einen wichtigen Faktor auch für die Sicherheit der Allgemeinheit nach der Entlassung von Strafgefangenen abgeschafft.
Norm:
§ 10 StVollzG: Offener und geschlossener Vollzug
(1) Ein Gefangener soll mit seiner Zustimmung in einer Anstalt oder Abteilung des offenen Vollzuges untergebracht werden, wenn er den besonderen Anforderungen des offenen Vollzuges genügt und namentlich nicht zu befürchten ist, daß er sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Möglichkeiten des offenen Vollzuges zu Straftaten mißbrauchen werde.
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