Rechtsfolgen der Obliegenheitsverletzung eines Versicherungsnehmers
Bei den meisten Versicherungen, zumindest im Bereich der Schaden- und Unfallversicherungen, hoffen die Versicherten, dass sie nie einen Schadensfall erleiden. Tritt der Versicherungsfall ein, ist aber noch längst nicht gewährleistet, dass der Schaden vom Versicherer übernommen wird. Sehr oft geht es bei gerichtlichen Auseinandersetzungen darum, ob der Versicherungsnehmer die sogenannten Obliegenheiten verletzt hat, also gesetzlich oder vertraglich festgelegten Verhaltenspflichten. Im Gegensatz zu echten Rechtspflichten sind Obliegenheiten nicht einklagbar. Auch löst ihre Verletzung keinen Anspruch auf Schadensersatz aus. Für Versicherungsnehmer sind die Folgen einer Verletzung aber trotzdem oft folgenschwer. Im ungünstigsten Fall müssen sie nämlich komplett auf Leistungen aus dem Versicherungsvertrag verzichten.
Gesetzliche Obliegenheiten
Es wird zwischen gesetzlichen und vertraglichen Obliegenheiten unterschieden. Die gesetzlichen Obliegenheiten sind im Versicherungsvertragsgesetz (VVG) geregelt. Sie gelten für alle Versicherungssparten.
Die wichtigsten gesetzlichen Obliegenheiten sind die vorvertragliche Anzeigepflicht (§§ 16 bis 22 VVG), Unterlassungs- und Anzeigepflichten im Zusammenhang mit einer Gefahrenerhöhung (§§ 23-30 VVG), die Obliegenheit zur Anzeige eines Versicherungsfalls (§ 33 VVG) und die Auskunfts- und Belegpflicht (§ 34 VVG).
Vertragliche Obliegenheiten
In den Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) werden die vertraglichen Obliegenheiten vereinbart. § 28 Versicherungsvertragsgesetz regelt die Rechtsfolgen, die eintreten können, falls eine vertragliche Obliegenheit verletzt wird. Obliegenheiten müssen transparent formuliert sein (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB). Das bedeutet, dass der Versicherungsnehmer deutlich erkennen kann, was von ihm verlangt wird und unter welchen Umständen er seinen Versicherungsschutz verlieren kann. Zudem dürfen Obliegenheiten den Versicherungsnehmer nicht unangemessen benachteiligen ( § 307 Abs. 2 BGB).
Rechtsfolgen bei Verletzung von Obliegenheiten
Kündigung des Vertrags
Ein Versicherer kann den Vertrag nur kündigen, wenn der Versicherungsnehmer vor Eintritt des Versicherungsfalls die zu erfüllenden Obliegenheiten vorsätzlich oder grob fahrlässig verletzt hat (§ 28 Abs. 1 VVG). Die Kündigung muss innerhalb eines Monats ausgesprochen werden, nachdem der Versicherer von der Verletzung Kenntnis erlangt hat.
Leistungsfreiheit
Im Gegensatz zur Kündigung des Vertrags ist die Leistungsfreiheit des Versicherers eine mögliche Konsequenz von Obliegenheitsverletzungen vor oder nach Eintritt des Versicherungsfalls. Dem Versicherungsnehmer muss ein Vorsatz oder zumindest eine grobe Fahrlässigkeit nachgewiesen werden. Die Rechtsfolge kann nur eintreten, wenn sie ausdrücklich in den AVB vereinbart wurde. Leistungsfreiheit tritt bei Verletzung einer Obliegenheit nicht von selbst ein. Das Versicherungsunternehmen muss sie geltend machen.
Eine leichte Fahrlässigkeit hat keine negativen Konsequenzen für den Versicherungsnehmer. In diesem Fall muss der Versicherer zahlen und darf den Vertrag auch nicht kündigen. Allerdings muss der Versicherungsnehmer beweisen, dass er nicht grob fahrlässig, sondern nur leicht fahrlässig gehandelt hat bzw. dass er vollkommen schuldlos ist.
Wäre der Versicherungsfall auch ohne die Verletzung der Obliegenheit eingetreten, muss der Versicherer trotzdem zahlen (§ 28 Abs. 3 VVG). Dieser Grundsatz der Kausalität gilt immer, sofern der Versicherungsnehmer nicht arglistig gehandelt hat. Arglistiges Verhalten wird unterstellt, wenn der Versicherungsnehmer der Obliegenheit bewusst und gewollt zuwider handelt. In der Praxis scheint der Nachweis der fehlenden Kausalität allerdings schwer zu erbringen sein. Ein Beispiel wird im VVG-Kommentar von Römer/Langheid genannt.
Beispiel: Fehlende Kausalität
Das OLG Karlsruhe die Leistungsfreiheit eines Versicherungsunternehmens bei einem Verkehrsunfall mit abgefahrenen Reifen abgelehnt. Begründung der Richter: Die Haftung der abgefahrenen Reifen sei auf der trockenen Fahrbahn nicht schlechter, sondern besser gewesen als die Haftung von verkehrssicheren Reifen mit besserem Profil.
Umfang der Leistungsfreiheit
Bei der Frage, nach dem Umfang der Leistungsfreiheit gelten seit der Reform des Versicherungsvertragsgesetzes neue Regeln. Das Alles-oder-nichts-Prinzip, das regelte, dass die Versicherungen bei grober Fahrlässigkeit grundsätzlich nicht zahlen müssen, ist mit der Reform des Versicherungsvertragsgesetzes im Jahr 2008 passé. Jetzt gilt die sogenannte Quotenregelung, die besagt, dass die Versicherung die Leistung in einem der Schwere des Verschuldens entsprechenden Verhältnis zu kürzen. Diese Regelung ist grundsätzlich besser für den Versicherungsnehmer. Die Problematik liegt allerdings darin, dass bislang weitgehend unklar ist, wie eine Kürzung zu ermitteln ist. Auch ist die Quotenregelung kein Freifahrtschein für Versicherungsnehmer. Denn auch nach der neuen Rechtslage ist es möglich, dass der Versicherer die Leistung komplett verweigert. Diese „Kürzung auf Null“ ist zwar umstritten. Allerdings gibt es bereits Gerichtsurteile, die eine derartiges Vorgehen der Versicherung als rechtens ansehen.
Beispiel: Kürzung auf Null
Der BGH musst sich mit einem Fall beschäftigen bei dem ein klagender Kfz-Versicherer seinen Versicherungsnehmer in Regress genommen hat, nachdem er für ihn anlässlich einer Trunkenheitsfahrt im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit (2,0 Promille) den Schaden reguliert hatte. Der beklagte Autofahrer hatte argumentiert, §28 Abs. 2 Satz 2 VVG bedeute, dass eine Leistungskürzung auf Null ausgeschlossen sei. Deshalb müsse er für den Schaden nicht komplett einstehen. Der BGH verneinte dies. Eine Kürzung der Leistung auf Null ist in Ausnahmefällen durchaus möglich entschieden die Richter (BGH, Urteil v.11. 1.2012, IV ZR 251/10).
Prämienerhöhung bzw. Leistungsausschluss
Anstatt den Vertrag zu kündigen, kann der Versicherer ihn auch zu veränderten Bedingungen fortführen. Dabei hat der die Wahl zwischen einer Erhöhung der Versicherungsprämie und einem Risikoausschluss. Erhöht sich die Prämie als Folge der Gefahrenerhöhung um mehr als 10 Prozent oder schließt der Versicherer die Absicherung der höheren Gefahr aus, kann der Versicherungsnehmer den Vertrag innerhalb eines Monats kündigen. Der Versicherer muss den Versicherungsnehmer in einer Mitteilung auf dieses Recht hinweisen (§ 25 Abs. 2 VVG).
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