Unfallversicherungsschutz bei Tätlichkeit unter Kollegen?

Diskussionen unter Kollegen über ein geöffnetes oder geschlossenes Fenster können Emotionen hervorrufen. Liegt ein Arbeitsunfall vor, wenn solch eine Situation eskaliert und die Beteiligten handgreiflich werden? Dies hatte das Landessozialgericht Baden-Württemberg zu entscheiden.

Im September 2014 fuhr der Kläger nach dem Einsatz auf einer Baustelle den Firmentransporter der Arbeitgeberin zurück nach Göppingen. Im Wagen saßen mehrere Kollegen, die nach dem Arbeitstag auf der Baustelle verschwitzt waren. Dabei kam es zum Streit, ob man wegen der „schlechten Luft“ die Fenster öffnen oder besser die Zugluft vermeiden solle. Im Verlauf dieses Streits fielen auch beleidigende Worte und das Fenster wurde durch einen Kollegen mehrmals geöffnet und wieder geschlossen.

Streit über Luftverhältnisse eskaliert

Die Situation eskalierte, als der Kläger seinen Kollegen absetzte, dieser die Beifahrertüren öffnete und der Kläger ausstieg, um diese wieder zu schließen. Der Kollege griff den Kläger an und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, wodurch dieser zu Boden ging. Dann versetzte er dem am Boden Liegenden noch mit dem mit einer Stahlkappe bewehrten Schuh einen Tritt in den Kopfbereich. Hierdurch erlitt der Kläger eine Schädelprellung sowie Hautabschürfungen am Außenknöchel und Daumen rechts. Der Täter wurde später vom Amtsgericht Göppingen wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe verurteilt.

Berufsgenossenschaft lehnt Arbeitsunfall aufgrund persönlicher Differenzen ab

Die Berufsgenossenschaft hörte die Arbeitnehmer mit dem von ihr für solche Fälle entwickelten „Fragebogen Streit“ an und lehnte anschließend gegenüber dem Kläger die Anerkennung eines Arbeitsunfalls ab. Sie stellte sich auf den Standpunkt, der Streit sei nicht aus betrieblichen Gründen, sondern aus persönlichen bzw. kulturellen Differenzen eskaliert (der Täter stammt aus der Türkei, der Kläger aus dem Kosovo).

Sozialgericht bestätigt Entscheidung der BG zunächst

Das Sozialgericht Ulm hat in erster Instanz der Berufsgenossenschaft Recht gegeben. Die gegen den Kläger gerichtete Straftat des Kollegen sei nicht wesentlich durch das Zurücklegen des Arbeitsweges bedingt gewesen, sondern durch die konfliktaffine Persönlichkeit der beiden Beteiligten.

Landessozialgericht hebt Urteil auf und stellt Arbeitsunfall fest

Die Richterinnen und Richter des Landessozialgerichts haben dies anders bewertet und das erstinstanzliche Urteil aufgehoben. Sie gaben dem Kläger Recht und die Berufsgenossenschaft verpflichtet, das Ereignis als Arbeitsunfall anzuerkennen. Auch der (direkte) Nachhauseweg von der Arbeitsstätte zur Wohnung steht unter dem Schutz der gesetzlichen Wegeunfallversicherung. Dieser Versicherungsschutz aus der Wegeunfallversicherung ist nicht unterbrochen worden. Das versicherte Zurücklegen des Weges zur Arbeitsstätte war die maßgebliche Ursache für die Einwirkungen durch den Täter, der den Kläger durch seine Intervention daran hindern wollte, die Fahrzeugtüren zu schließen, um dann unverzüglich die Fahrt nach Hause fortzusetzen.

Wer auf dem Heimweg von der Arbeit mit Arbeitskollegen über betriebliche Vorgänge in Streit gerät und zusammengeschlagen wird, kann einen Anspruch auf Anerkennung eines Arbeitsunfalls haben.

LSG: Ursache des Streits lag in der Tätigkeit als Fahrer

Die Ursachen des Streits lagen nicht im privaten Bereich begründet, sondern in der versicherten Tätigkeit des Klägers als Fahrer: Der Kläger und der Kollege hatten zuvor darüber gestritten, ob das Fenster wegen unangenehmer Gerüche durch die verschwitzte Arbeitskleidung geöffnet oder wegen der Erkältungsgefahr durch Zugluft geschlossen gehalten werden sollte und wer dies zu bestimmen hatte. Außerdem war der Täter aufgebracht darüber, dass zunächst ein dritter Kollege und nicht er vom Kläger nach Hause gebracht worden war. In der Straftat wirkte der unmittelbar vorangegangener Streit über Themen mit konkretem Bezug zur versicherten Tätigkeit nach.

Zwar hatte der Kläger zum Unfallzeitpunkt sein Fahrzeug angehalten und war aus dem Fahrzeug ausgestiegen, aber nur deshalb, um die vom Täter zuvor geöffneten Türen zu schließen, ohne dass er dafür den öffentlichen Verkehrsraum verlassen musste. Es handelte sich um eine Verrichtung, die notwendig war, damit der restliche Weg zurückgelegt werden konnte, also nicht um eine privatwirtschaftliche Tätigkeit. Der Kläger wollte nur seinen Heimweg fortsetzen und zu diesem Zweck die Verkehrssicherheit des Fahrzeugs wiederherstellen, indem er versuchte, auch die letzte Fahrzeugtür auf der Beifahrerseite zu schließen. Daran suchte der Täter ihn zu hindern, was schließlich in die von diesem begangene Körperverletzung mündete.

 

Hinweis: LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 22.11.2017, L 1 U 1277/17

LSG Baden-Württemberg