"Rückgängig gemacht" ist ein Erwerbsvorgang, wenn über die zivilrechtliche Aufhebung des den Steuertatbestand erfüllenden Rechtsgeschäfts hinaus die Vertragspartner sich derart aus den vertraglichen Bindungen entlassen haben, dass die Möglichkeit zur Verfügung über das Grundstück nicht beim Erwerber verbleibt, sondern der Veräußerer seine ursprüngliche Rechtsstellung wiedererlangt. Wird im Zusammenhang mit der Aufhebung eines Kaufvertrags über ein Grundstück dieses weiterveräußert, ist für die Anwendung des § 16 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG entscheidend, ob für den früheren Erwerber trotz der Vertragsaufhebung die Möglichkeit der Verwertung einer aus dem "rückgängig gemachten" Erwerbsvorgang herzuleitenden Rechtsposition verblieben und der Verkäufer demzufolge nicht aus seinen Bindungen entlassen war (vgl. BFH Urteil vom 05.09.2013 - II R 9/12).
Aufhebungs- und der Weiterveräußerungsvertrag
Dem früheren Erwerber verbleibt die Möglichkeit der Verwertung einer aus dem "rückgängig gemachten" Erwerbsvorgang herzuleitenden Rechtsposition jedenfalls dann, wenn z. B. der Aufhebungs- und der Weiterveräußerungsvertrag in einer einzigen Urkunde zusammengefasst sind. In diesem Fall hat er die rechtliche Möglichkeit, die Aufhebung des ursprünglichen Kaufvertrags zum anschließenden Erwerb des Grundstücks durch eine von ihm ausgewählte dritte Person zu nutzen. Denn der Veräußerer wird aus seiner Übereignungsverpflichtung gegenüber dem früheren Erwerber erst mit der Unterzeichnung des Vertrags durch alle Vertragsbeteiligten und damit erst in dem Augenblick entlassen, in dem er bereits wieder hinsichtlich der Übereignung des Grundstücks an den Zweiterwerber gebunden ist (vgl. BFH Urteil vom 28.03.2012 - II R 42/11).
Beispiel 1: Kein schädliches Interesse des Erwerbers
Der Veräußerer V veräußert an den Erwerber E ein Grundstück. Zu Gunsten des E wird eine Auflassungsvormerkung im Grundbuch eingetragen. Kurze Zeit später merkt E, dass er das Grundstück nicht gebrauchen kann und bittet V, den Kaufvertrag aufzuheben. Da V lange nach einem Käufer gesucht hatte und das Grundstück unbedingt veräußern wollte, willigt er in die Aufhebung des Kaufvertrags erst ein, als E ihm den Ersatzkäufer EK benennt. V, E und EK treffen sich daraufhin beim Notar. In einer Urkunde vereinbaren sie zugleich, dass der ursprüngliche Kaufvertrag aufgehoben und ein Kaufvertrag zwischen V und EK geschlossen wird.
Lösung: § 16 GrEStG ist anwendbar. Zwar ist E eine Rechtsposition hinsichtlich des Grundstücks verblieben (Auflassungsvormerkung). Diese hat er auch verwertet (Rückgängigmachung und Weiterveräußerung in einer Urkunde). Allerdings fehlt es an einem eigenen Interesse des E an der Verwertung. Vielmehr erfolgt die weitere Veräußerung im Interesse des Veräußerers V.
Beispiel 2: Zurechnung von Interessen
Die A-GmbH (Klägerin) wurde zusammen mit ihrer Schwestergesellschaft, die B-GmbH, am 30.10.2006 errichtet. An dem Stammkapital der A-GmbH und der B-GmbH sind die beiden Gesellschafter-Geschäftsführer jeweils zur Hälfte beteiligt.
Die A-GmbH erwarb mit notariell beurkundetem Kaufvertrag vom 30.10.2006 von einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) ein mit einem Mietwohnhaus bebautes Grundstück zu einem Kaufpreis in Höhe von 1.800.000 EUR. Das Grundstück war der einzige Vermögensgegenstand der GbR. Das Finanzamt setzte die Grunderwerbsteuer mit Bescheid vom 27.11.2006 auf 63.000 EUR fest.
Mit notariell beurkundetem Vertrag vom 13.12.2006 hoben die Vertragsparteien den Grundstückskaufvertrag vom 30.10.2006 rückwirkend auf. In derselben Urkunde veräußerten die Gesellschafter der GbR ihre Gesellschaftsanteile an die A-GmbH und die B-GmbH. Als Kaufpreis für die Übertragung der Gesellschaftsanteile vereinbarten die Vertragsparteien einen Gesamtkaufpreis in Höhe von 1.800.000 EUR. Im Zeitpunkt der Beurkundung war die Umschreibung im Grundbuch aufgrund der Auflassung vom 30.10.2006 noch nicht erfolgt.
Den Antrag der Klägerin, den Grunderwerbsteuerbescheid vom 27.11.2006 nach § 16 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG aufzuheben, lehnte das Finanzamt ab.
Lösung: Die Voraussetzungen des § 16 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG sind nicht erfüllt. Die Vertragsparteien haben mit notariell beurkundetem Vertrag vom 13.12.2006 den Grundstückskaufvertrag vom 30.10.2006 rückwirkend aufgehoben und zugleich die Anteile an der GbR auf die A-GmbH und die B-GmbH übertragen. Dabei hat die A-GmbH ihre Rechtsposition aus dem Kaufvertrag dahingehend verwertet, dass sie mit ihrer Unterschrift unter den Vertrag den Erwerb der Anteile an der grundbesitzenden GbR durch sie selbst und die B-GmbH sicherstellte. Ihr Interesse ging nicht allein dahin, sich vom Vertrag vollständig zu lösen. Vielmehr hat sie über die Beteiligung an der GbR ihren mittelbaren Einfluss auf das Grundstück behalten. Um sich das Grundstück wirtschaftlich über die Beteiligung am Gesamthandsvermögen zuzueignen, hat die A-GmbH ihre ursprüngliche Rechtsposition aus dem Kaufvertrag verwertet. Das steht einer Rückgängigmachung des Erwerbsvorgangs i.S. des § 16 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG entgegen (vgl. BFH Urteil vom 05.09.2013 - II R 9/12).
Zusammenfassung: Nichtanerkennung einer tatsächlichen Rückgängigmachung
In der Literatur werden die Voraussetzungen, an welche der BFH die Nichtanerkennung einer tatsächlichen Rückgängigmachung knüpft, wie folgt zusammengefasst (vgl. insbesondere Podewils, jurisPR-SteuerR 14/2019 Anm. 3):
In den sog. Weiterveräußerungsfällen, in denen der Veräußerer die fragliche Immobilie unmittelbar nach Aufhebung des ursprünglichen Erwerbsgeschäfts erneut veräußert, kommt es darauf an, ob wirtschaftlich der Veräußerer oder aber der Ersterwerber verfügt. Letzteres ist der Fall, wenn der Ersterwerber die ihm aus dem vorangegangenen Erwerbsvorgang verbliebene Rechtsposition im eigenen wirtschaftlichen Interesse verwertet. Gleiches gilt, wenn zwar die Immobilie selbst nicht erneut veräußert wird, jedoch eine Gesellschaft Eigentümerin und Verkäuferin ist, der ursprüngliche Kaufvertrag rückgängig gemacht wird und sodann die Anteile an der Gesellschaft auf den Ersterwerber oder einen bzw. mehrere von diesem bestimmte Dritte übertragen werden.
BFH: Gesamtwürdigung aller Tatsachen des Einzelfalls
Der BFH hält in ständiger Rechtsprechung daran fest, dass es stets um eine Gesamtwürdigung aller Tatsachen des Einzelfalls geht. Ein maßgebliches Kriterium ist dabei, wenn der Aufhebungs- und der Weiterveräußerungsvertrag in einer einzigen Urkunde zusammengefasst werden. Es wäre aber sicherlich falsch, hieraus den Umkehrschluss zu ziehen, dass bei einer Trennung der jeweiligen Vereinbarungen in zwei Urkunden ohne weiteres ein Anspruch auf Aufhebung der Grunderwerbssteuerfestsetzung besteht. Es ist evident, dass unter Wertungs- und Umgehungsgesichtspunkten der Abschluss zweier Verträge in aufeinander folgenden Urkunden keine andere Behandlung rechtfertigt.
"Schamfrist" zwischen Aufhebungsvertrag und Weiterverkauf?
Zuweilen wird in der Praxis daher empfohlen, eine "Schamfrist" zwischen Aufhebungsvertrag und Weiterverkauf verstreichen zu lassen. Zugegebenermaßen verringert ein solches Vorgehen das tatsächliche Aufgriffsrisiko durch die Finanzverwaltung, birgt aber zusätzliche Risiken: Einerseits bleibt unsicher, ob die Voraussetzungen des § 16 GrEStG zu bejahen sind. Andererseits besteht die Gefahr, dass sich die jeweilige Vertragspartei es sich innerhalb der "Schamfrist" noch anders überlegt.
Erlass von Säumniszuschlägen bei späterer Aufhebung der Grunderwerbsteuerfestsetzung wegen sachlicher Unbilligkeit?
Der Erlass von Säumniszuschlägen nach § 227 AO aus sachlichen Billigkeitsgründen ist geboten, wenn deren Einziehung mit Rücksicht auf ihren Zweck nicht zu rechtfertigen ist, obwohl der Sachverhalt zwar den gesetzlichen Tatbestand des § 240 Abs. 1 Satz 1 AO erfüllt, die Erhebung der Säumniszuschläge ab den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft.
In den Fällen des § 16 Abs. 1 Nr. 1 GrEStG ist die Erhebung von Säumniszuschlägen bereits ab dem Zeitpunkt der Entstehung des abstrakten Anspruchs auf Aufhebung der Grunderwerbsteuerfestsetzung nach § 16 GrEStG sachlich unbillig. Dies ist regelmäßig der Zeitpunkt der wirksamen Erklärung des Rücktritts vom Kaufvertrag (vgl. BFH Beschluss vom 09.09.2015 - II B 28/15).
Die Finanzverwaltung (vgl. Ministerium der Finanzen des Landes Sachsen-Anhalt, Erlass v. 30.1.2017, 42 - S 4543 - 19) vertritt in diesem Zusammenhang folgende Auffassung:
Bei dem Anspruch auf Aufhebung der Grunderwerbsteuerfestsetzung nach § 16 GrEStG handelt es sich um einen eigenständigen Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis nach § 37 Abs. 1 AO, der den ursprünglichen Steueranspruch unberührt lässt. Der formelle Anspruch auf Aufhebung der Grunderwerbsteuerfestsetzung ist dabei nicht Voraussetzung für das (abstrakte) Entstehen dieses Anspruchs, sondern lediglich Verfahrensvoraussetzung für dessen Realisierung. Insofern kommt dem Antrag bei der Entscheidung über die Frage des Zeitpunkts der Unbilligkeit keine Bedeutung zu.
Bis zum Zeitpunkt der Entstehung des abstrakten Anspruchs auf Aufhebung der Grunderwerbsteuerfestsetzung nach § 16 Abs. 1 GrEStG (wegen der Nichtzahlung oder verspäteten Zahlung der vormals geschuldeten Grunderwerbsteuer) verwirkte Säumniszuschläge sind daher zu erheben.