Interview Wie viel Ethik braucht die Branche

Die steuerrechtlichen und berufsrechtlichen Anforderungen nehmen zu, mit neuen Herausforderungen wie Meldepflichten. Letztes Beispiel ist die Novelle des Ethical Standards for Tax Planning der IESBA. Doch wie viel zusätzliche Ethik braucht die Branche? Und wo bleibt die eigene Moral? Gedanken hierzu von Prof. Dr. Andreas Suchanek, Inhaber des Dr. Werner Jackstädt-Lehrstuhls für Wirtschafts- und Unternehmensethik an der HHL Leipzig Graduate School of Management.

Herr Prof. Dr. Suchanek, wenn Sie auf Ihre Studierenden schauen, und generell auf Menschen zu Beginn Ihres Berufslebens – wo sehen Sie diese gerade ethisch?

Prof. Dr. Andreas Suchanek: Es ist nicht so einfach, nachzuvollziehen, wo die Studierenden und jungen Berufstätigen heute stehen. Unsere Realitätswahrnehmungen driften auseinander, das hängt auch mit Algorithmen zusammen. 

Wir haben einen beträchtlichen Spread dessen, was für die Jungen heute bedeutsam ist. Vielen ist Nachhaltigkeit total wichtig, sie verstehen aber oft etwas spezifisch Klimabezogenes darunter, während soziale Fragen  in den Hintergrund treten. Umgekehrt gibt es diejenigen mit dem Blick auf genau diese Fragen wie etwa soziale Ungerechtigkeit. Dann gibt es eine dritte Gruppe, die sagt, die großen Fragen, das wird mir alles zu viel, darum will ich mich nicht kümmern.

Was brauchen wir Ihres Erachtens in der derzeitigen Situation?

Notwendig ist trotz dieser immer größer werdenden Unterschiede ein gemeinsames Spielverständnis. Die größte Herausforderung ist, das alles zusammen zu halten, eine gemeinsame Grundlage fürs Zusammenleben zu finden, wenn Sie so wollen. 

Gerade in den wissensintensiven Dienstleistungen, zu denen ich die Steuerberatung zähle, ist es sehr komplex geworden, klar zu sehen, was zum einen ich selbst im geschäftlichen Umgang erwarten kann und was zum anderen die anderen von mir erwarten. Beidem muss ich adäquat Rechnung tragen, wenn ich das Vertrauen der Mandantinnen und Mandanten gewinnen und behalten will.


Es ist schön, gelegentlich etwas Gutes zu tun, aber noch wichtiger, nichts Schlechtes zu tun, das einen vielleicht ein Leben lang verfolgt.


So argumentiert auch die IESBA in ihren Ethical Standards for Tax Planning. Wie aber schaffe ich es, mich als Steuerberaterin oder Steuerberater einerseits in der Fülle der Regelungen, andererseits in der ständig komplexer werdenden Welt ethisch zu orientieren?

Wir haben dazu vor etwa einem Jahr mit dem Wittenberg Zentrum für globale Ethik einen ethischen Kompass entwickelt. Im Zentrum steht der Appell 'Do no harm'. Ereicht wird er durch vier Schritte, die die Aspekte Freiheit, Einbettung, Respekt und Selbstbeschränkung abarbeiten. Um letzteres geht es im Grunde dann auch immer in den Berufspflichten und anderen Regelungen wie den CSRD: dem eigenen Handeln Grenzen zu setzen. Wo diese liegen, lässt sich eben mit dem ethischen Kompass ausloten.

Klar wird dann beispielsweise sehr schnell: Do-no-harm und Cum-ex gehen nicht zusammen, wenngleich es für den einzelnen Steuerberater nicht unmittelbar sichtbar ist, wen er da schädigt. Bei komplexen Steuergestaltungsmodellen stehen wir uns ja nicht gegenüber, wie in einer konkreten realen Situation, in der ich überlegen könnte, wie ich am besten an Ihre Brieftasche komme.

Was bedeutet das für die Beratungspraxis in den Kanzleien?

Als Ethiker sage ich dazu: Es ist schön, gelegentlich etwas Gutes zu tun, aber noch wichtiger, nichts Schlechtes zu tun, das einen vielleicht ein Leben lang verfolgt. Das ist aber weniger banal als es klingt, denn wenn ich Trader in einem Trading-Room bin und per Knopfdruck Millionen um die Welt schicke, dann betrifft mein Tun immer Menschen, aber ohne dass ich das in irgendeiner Weise nachfühlen könnte. 

In der Beratungspraxis ist es dann zwar etwas direkter, aber vielleicht immer noch so, dass ich etwas Fragwürdiges tue und dann geschickt verstecke, weil ich denke, das merkt kein Mensch – entweder um dem Chef zu gefallen oder um den Mandanten zufrieden zu stellen.

Wie entkomme ich als Beraterin dieser Falle?

Es beginnt mit Selbstreflexion – im Unternehmen ggf. auch der gemeinsamen Reflexion: die Klärung der Frage, was meine Treiber für bestimmte Handlungen sind. Beobachten Sie sich im Alltag! Machen Sie etwas nur aus hedonistischen Werten heraus, um sich unmittelbar gut zu fühlen? Oder treibt Sie vor allem Leistung an? Beides kann in Ordnung sein, aber manchmal in Konflikte führen. 

Deshalb braucht es den umfassenden Frame der Integrität – denn sonst können Sie auch sagen: 'Gut, ich verkaufe Sie in die Sklaverei, das rechnet sich doch für mich.' Die Empfehlung der Ethik ist seit jeher, sich zu fragen, wie ich selbst leben will. Denn es gibt für den Menschen in einem gewissen Sinn nichts Wichtigeres als sich selbst – und damit das Bemühen um ein gutes Leben. Das aber sollte eingebettet sein in die Einsicht, dass das nur mit anderen Menschen geht.

Was bedeutet das für Beraterinnen und Berater, die eher am Anfang Ihrer Karriere stehen?

Sich zu fragen, ob man Erfolg auch auf Kosten anderer haben will, oder ob man bereit ist, sich selbst dabei Grenzen zu setzen, nämlich dort, wo das eigene Tun andere verletzt. Welche Spiele ist man bereit mitzuspielen? Und wo zieht man für sich Grenzen?


Ab einem gewissen Punkt macht es für meine Zufriedenheit keinen Unterschied mehr, wieviel ich verdiene; das Problem ist dann eher der Vergleich mit anderen. Doch das ist ein Weg in die Unzufriedenheit.


Fühle ich mich damit in der modernen Wirtschaftswelt nicht zwangsläufig als Verliererin? Weil zum Beispiel gerade die Rücksichtslosesten abgefeiert werden und als neue Oligarchenriege offen nach politischer Macht auch in westlichen Staaten greifen...

Wenn ich so agiere wie ein Zuckerberg oder wie ein Elon Musk, bringt mir das womöglich gar nicht so viel, wie es den Anschein hat. Denn es gibt ja das, was wir den Grenznutzen nennen: Ab einem gewissen Punkt macht es für meine Zufriedenheit keinen Unterschied mehr, wieviel ich verdiene; das Problem ist dann eher der Vergleich mit anderen. Doch das ist ein Weg in die Unzufriedenheit. Da ist es besser, statt dem unreflektierten Streben nach maximalen Erfolg von äußeren Dingen unabhängiger zu werden und mehr Wert etwa auf das Vertrauen der Mandantinnen und Mandanten, die gern mit mir zusammenarbeiten wollen, zu legen. Es ist schlicht auch die Frage, wer man sein will.

Lassen Sie uns nochmals auf die Regelwerke für Steuerberatende zurückkommen, das nationale Berufsrecht, internationale Standards oder auch allgemein die CSRD. Wie ist Ihr Eindruck: Brauchen wir das alles in dieser Form? Und wenn ja, wie können wir idealerweise damit umgehen?

Zunächst einmal brauchen wir Regeln – sie sind gewissermaßen Voraussetzung für das Spiel. Doch leider wird es derzeit immer mehr, so dass die Regeln geradezu zum Problem statt zur hilfreichen Voraussetzung werden. Dann wird die eigene Einstellung zu den Regeln und den Werten, wie wir kooperieren und uns im Wettbewerb verhalten wollen und können, wichtiger. 

Hier scheinen mir zwei Dinge wichtig: Zum einen Integrität als Voraussetzung für Vertrauen, zum anderen Antifragilität, die Fähigkeiten an Herausforderungen zu wachsen. Beides kostet etwas, aber es handelt sich dabei um sinnvolle Investitionen.


Hintergrund

Novelle des International Ethics Standards Board for Accountants (IESBA)

Das IESBA ist ein unabhängiges, weltweit tätiges Gremium, das Standards setzt. Es will diese als Eckpfeiler für ethisches Verhalten in Unternehmen und Organisationen verstanden wissen. Ziel ist es, das öffentliche Vertrauen in finanzielle und nicht-finanzielle Informationen zu unterstützen.

Das IESBA hat unter anderem seine "Ethical Standards for Tax Planning" 2024 überarbeitet. Die wichtigsten Neuerungen in den Revisionsstandards:

  • Höhere Dokumentationsanforderungen: Beratende müssen zeitnah die Zwecke, Umstände und Substanz von Steuergestaltungen dokumentieren, einschließlich der Identität der Begünstigten und der getroffenen Entscheidungen.
  • Berücksichtigung von Unsicherheiten: Es wird betont, dass Beratende bei Unsicherheiten hinsichtlich der Einhaltung von Steuergesetzen die potenziellen Risiken und die Wahrnehmung durch Stakeholder berücksichtigen müssen.
  • Transparenz und Offenlegung: Beratende sollten ihre Mandantinnen und Mandanten die Möglichkeit aufzeigen, vollständig transparent gegenüber den Steuerbehörden zu agieren, um negative Konsequenzen zu vermeiden.

Grundsätzlich sieht das IESBA die Rolle der Ethik in der Steuerberatung als entscheidend an, um das Vertrauen in die Integrität von Finanzinformationen und die ordnungsgemäße Funktionsweise von Märkten zu gewährleisten, was im öffentlichen Interesse liegt. Dazu müssten Beratende sicherstellen, dass ihre Steuerplanungsarrangements nicht nur gesetzeskonform sind, sondern auch die grundlegenden ethischen Prinzipien wie Integrität, Objektivität und Professionalität respektieren.

Ethisches Verhalten hilft laut IESBA dabei, potenzielle Interessenkonflikte zu identifizieren und zu vermeiden, die aus aggressiven Steuerplanungsstrategien entstehen könnten, und fördert verantwortungsbewusste Entscheidungen.


Schlagworte zum Thema:  Steuerberatung, Compliance