Ethik kann helfen, die Arbeitskultur in Unternehmen zu stärken

Gregor Thüsing ist im Oktober 2024 in den Deutschen Ethikrat berufen worden und wird seine arbeits- und sozialrechtliche Expertise dort einbringen. Die Haufe-Online-Redaktion gratuliert zur Berufung und fragt den renommierten Arbeitsrechtler, wie er diese neue Aufgabe angehen wird.

Haufe Online Redaktion: Herr Professor Thüsing, Sie wurden im Oktober diesen Jahres als einer von vier Juristen in den Deutschen Ethikrat berufen und sind damit der erste Arbeits- und Sozialrechtler in diesem Gremium seit seiner Gründung. Was bedeutet diese Berufung für Sie?

Gregor Thüsing: Die Berufung in den Deutschen Ethikrat ist eine große Ehre und gleichzeitig eine spannende Herausforderung. Gerade die Berufung eines Arbeits- und Sozialrechtlers ist ein Zeichen dafür, dass ethische Fragen im Arbeits- und Sozialrecht zunehmend an Bedeutung gewinnen. Auch die Ökonomie wird wichtiger in Zeiten begrenzter Ressourcen und virulenter Verteilungsfragen – deshalb sind das erste Mal auch Ökonomen in diesem Gremium. Ich freue mich darauf, meine Expertise in diesen Bereichen in den Ethikrat einzubringen und die Schnittstellen zwischen Recht, Ethik und gesellschaftlicher Praxis zu beleuchten. Gerade in diesen Bereichen gibt es viele ethische Fragestellungen, die unsere Gesellschaft heute beschäftigen.

Ethische Perspektiven rechtlich untermauern

Haufe Online Redaktion: Das klingt nach viel Arbeit. Trotzdem haben Sie sich entschieden, Mitglied des Ethikrates zu werden?

Thüsing: Viel Arbeit – aber man bekommt viel zurück. Für mich ist der Ethikrat ein einzigartiges Gremium, in dem komplexe, oft moralisch schwer zu beantwortende Fragen behandelt werden. In unserer Gesellschaft tauchen immer wieder neue Themen auf, die nicht nur rechtliche, sondern eben auch ethische Bewertungen erfordern. Dies gilt insbesondere in Zeiten technologischen Wandels, wie etwa bei der Frage nach dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz oder dem Umgang mit neuen Formen der Arbeit. Als Arbeits- und Sozialrechtler sehe ich es als meine Aufgabe an, zu prüfen, wie neue Entwicklungen in der Arbeitswelt – etwa die Digitalisierung – nicht nur rechtlich, sondern auch ethisch zu bewerten sind. Hier kann ich meine Fachkenntnisse nutzen, um Lösungsansätze zu erarbeiten, die nicht nur rechtlich korrekt, sondern auch moralisch vertretbar sind.

Haufe Online Redaktion: Worin sehen Sie Ihre zentrale Aufgabe im Deutschen Ethikrat? Sie haben schon vor zehn Jahren in Ihrem Buch "Mit Arbeit spielt man nicht" versucht, Leitplanken für eine gerechte Ordnung des Arbeitsmarkts zu formulieren. Sehen Sie hier eine Möglichkeit, Ihre Ideen umzusetzen?

Thüsing: Nicht umzusetzen – aber einzubringen. Meine zentrale Aufgabe sehe ich darin, die ethischen Perspektiven rechtlich zu unterfüttern und damit einen wichtigen Beitrag zur realistischen Entscheidungsfindung im Rat zu leisten. Es geht darum, den rechtlichen Rahmen in die ethische Diskussion einzubringen, ohne dabei die moralischen Überlegungen aus den Augen zu verlieren. Besonders im Arbeitsrecht gibt es immer wieder Konflikte zwischen dem, was rechtlich zulässig ist, und dem, was ethisch geboten wäre. In solchen Fällen gilt es, diese Spannungen sichtbar zu machen und Vorschläge zu erarbeiten, wie ethische Prinzipien in der Praxis stärker berücksichtigt werden können. Dazu gehört dann auch, den Diskurs über Arbeit und Ethik in einer sich verändernden Arbeitswelt zu fördern und Brücken zwischen Recht, Ethik und gesellschaftlicher Praxis zu bauen.

Maßstäbe für gerechte Arbeitspolitik und Umgang mit KI

Haufe Online Redaktion: Sie sprechen die sich verändernde Arbeitswelt an. Welche Herausforderungen sehen Sie in Bezug auf die Ethik im Arbeitsleben?

Thüsing: Die Arbeitswelt befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel, vor allem durch die Digitalisierung, die Globalisierung und die zunehmende Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse. Eine der größten Herausforderungen ist der Umgang mit neuen Technologien, insbesondere Künstlicher Intelligenz. Dürfen wir alles, was wir können? Diese Technologien können zwar Prozesse optimieren, werfen aber gleichzeitig ethische Fragen auf. Wie stellen wir sicher, dass Algorithmen in Einstellungsprozessen fair und diskriminierungsfrei eingesetzt werden? Wie schützen wir die Privatsphäre der Arbeitnehmer, wenn immer mehr Daten gesammelt werden? Und wie gehen wir mit den ethischen Implikationen der ständigen Erreichbarkeit um, die durch digitale Kommunikationsmittel gefördert wird?

Eine weitere Herausforderung sehe ich im Thema der sozialen Gerechtigkeit. Wir müssen uns fragen, wie wir in einer Welt, in der befristete Arbeitsverhältnisse, Teilzeitarbeit und Plattformarbeit immer häufiger werden, faire Arbeitsbedingungen sicherstellen. Wenn die Gewerkschaften an Einfluss verlieren – wer tritt an ihre Stelle? Muss der Staat durch Regelungen einspringen oder ist gerade auch das freie Spiel der Kräfte nicht nur ökonomisch sinnvoll, sondern auch ethisch vertretbar? Der Staat hat eine Verantwortung, Rahmenbedingungen guter Arbeit zu gewährleisten und dabei die oftmals so verschiedenen, ja gegenläufigen Interessen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber auszugleichen. Die Enzyklika Laborem exercens sprach schon vor über 40 Jahren anschaulich vom Staat als dem "indirekten Arbeitgeber" und erläutert, was damit gemeint ist: "Wenn direkter Arbeitgeber jene Person oder Institution ist, mit der ein Arbeitnehmer den Arbeitsvertrag unter bestimmten Bedingungen direkt abschließt, so muss man als indirekten Arbeitgeber die zahlreichen, verschiedenartigen Faktoren 'hinter_ dem direkten Arbeitgeber verstehen, die sowohl auf die Fassung des Arbeitsvertrages als auch auf das Entstehen mehr oder weniger gerechter Beziehungen im Bereich der menschlichen Arbeit einwirken." Daraus folgt dann eine zentrale Forderung: Gerade dem Staat obliege eine gerechte Arbeitspolitik. Und dafür brauchen wir Maßstäbe.

Haufe Online Redaktion: Und diese erarbeitet der Deutsche Ethikrat?

Thüsing: Er kann zumindest dabei helfen. Die nächste Jahrestagung – so viel kann ich schon verraten – wird sich mit der großen Frage der Solidarität beschäftigten: Was sind ihre Voraussetzungen, was ihre Grenzen in einer immer pluralistischer werdenden Gesellschaft? Ein Forum wird sich dabei auch mit der sozialen Sicherung beschäftigen und ich hoffe, viele Teilnehmer werden Impulse liefern, die wir aufnehmen können. Das wird definitiv ein Forum auch für Personaler.

Ethische Fragen in der Personalarbeit

Haufe Online Redaktion: Wo sehen Sie, gerade in Bezug auf die Personalarbeit, Chancen in der Arbeit des Ethikrates?

Thüsing: Die Arbeit des Ethikrates bietet erst einmal die Chance, das Bewusstsein für ethische Fragen in der Personalarbeit zu schärfen. In der Praxis gibt es viele Situationen, in denen das Recht klare Vorgaben macht, die Ethik aber zusätzliche Anforderungen stellt. Ein Beispiel wäre die Gleichbehandlung im Bewerbungsprozess. Rechtlich gesehen gibt es klare Antidiskriminierungsgesetze, doch die ethische Verantwortung geht oft darüber hinaus. Es geht darum, Diversität zu fördern, Chancengleichheit herzustellen und Entscheidungen zu treffen, die nicht nur formal korrekt, sondern auch moralisch vertretbar sind. Um es konkret werden zu lassen: Welche Maßstäbe gelten für einen guten Code of Conduct? Was ist von Quoten zu halten? "Is it fair?" fragte schon vor über 30 Jahren der einflussreiche amerikanische Rechtsphilosoph Ronald Dworkin im Hinblick auf die Grenzen der affirmative action (positiven Diskriminierung). Die Frage ist bis heute nicht allgemeingültig beantwortet.

Ethik kann zudem dabei helfen, die Arbeitskultur in Unternehmen zu stärken. Es reicht nicht aus, dass Unternehmen lediglich rechtlichen Anforderungen gerecht werden – sie sollten auch ethische Standards erfüllen, die das Wohl der Mitarbeiter in den Mittelpunkt stellen. Wenn Unternehmen ethische Werte in ihrer Personalpolitik verankern, kann das nicht nur das Arbeitsklima verbessern, sondern auch die Mitarbeiterbindung und das Ansehen des Unternehmens steigern.

Haufe Online Redaktion: Was hat gute Personalarbeit konkret mit Ethik zu tun?

Thüsing: Sehr viel, denn Personalarbeit betrifft in erster Linie den Umgang mit Menschen, die in ihren eigenen Wertvorstellungen abgeholt werden wollen. Jede Entscheidung in der Personalarbeit – sei es bei Einstellungen, Kündigungen oder in Fragen der Weiterbildung – hat ethische Implikationen. Personalverantwortliche treffen regelmäßig Entscheidungen, die das Leben von Menschen tiefgreifend beeinflussen können. Ethik in der Personalarbeit bedeutet, diese Entscheidungen nicht nur nach rein wirtschaftlichen oder rechtlichen Gesichtspunkten zu treffen, sondern auch die moralischen Konsequenzen zu berücksichtigen. Ein konkretes Beispiel ist der Umgang mit betrieblichen Umstrukturierungen und Entlassungen. Rechtlich mag es gerechtfertigt sein, Mitarbeiter zu entlassen, um Kosten zu senken, doch die ethische Frage, wie diese Entlassungen fair und transparent gestaltet werden können, bleibt. Hier kommen ethische Grundsätze wie die Achtung der Menschenwürde und die Verantwortung des Arbeitgebers ins Spiel. Ethik fordert uns auf, über das unmittelbare wirtschaftliche Interesse hinauszudenken und Lösungen zu finden, die den betroffenen Menschen gerecht werden.

Gesetze setzen nur Mindestanforderungen - moralische Prinzipien müssen ergänzt werden

Haufe Online Redaktion: Gibt es Fälle, in denen Ethik mehr verlangt als das Recht?

Thüsing: Absolut. "Nicht alles, was erlaubt ist, ist auch ehrenhaft." Das Zitat stammt aus den Schriften des römischen Juristen Paulus. Es erinnert uns daran, dass das Recht oft den moralischen Minimalkonsens einer Gesellschaft darstellt – das, was gerade noch erlaubt ist, aber nicht unbedingt moralisch gerechtfertigt sein muss. Gesetze setzen in der Regel nur Mindestanforderungen, während moralische Prinzipien oft einen höheren Anspruch an das Verhalten stellen und uns auffordern, über die Mindestanforderungen hinauszugehen und unser Handeln an moralischen Prinzipien zu orientieren. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Frage nach fairer Entlohnung. Rechtlich gesehen genügt es, wenn ein Arbeitgeber den gesetzlichen Mindestlohn zahlt. Doch ethisch betrachtet könnte der Arbeitgeber in der Pflicht stehen, Löhne zu zahlen, die auch ein würdevolles Leben ermöglichen. Wir hatten jetzt das Jubiläum "10 Jahre gesetzlicher Mindestlohn". Das hat auch unmittelbar mit der Frage der gerechten Entlohnung zu tun.

Ein weiteres Beispiel ist etwa der Umgang mit Whistleblowern. Während das Recht in vielen Fällen den Schutz von Whistleblowern garantiert, kann es ethisch geboten sein, ihnen zusätzliche Unterstützung zukommen zu lassen, um sicherzustellen, dass sie keine persönlichen Nachteile durch ihr Handeln erfahren. Oder nehmen Sie den Fall, dass ein Unternehmen sich für Whistleblower-Bounties entscheidet. Mancher fragt sich dann ganz platt: Soll petzen etwa belohnt werden? Oder frei nach Hoffmann von Fallersleben: Der schlimmste Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant. Wollen wir hierfür wirklich Anreize bieten? Jesuitisch gedacht: Heiligt der Zweck die Mittel? Oder ist das Mittel gar nicht so verwerflich, obwohl Dante in seiner Göttlichen Komödie den Verräter eingefroren im Eissee Cocytus sieht, dem tiefsten Kreis der Hölle? Warum schützt das Hinweisgeberschutzgesetz den Informanten, der womöglich aus Bosheit, Missgunst oder Neid handelt? In solchen Fällen zeigt sich, dass es notwendig ist, ethische Überlegungen in unser Handeln einzubeziehen, um wirklich verantwortungsvoll zu handeln.

Haufe Online Redaktion: Eine letzte Frage: Wie sehen Sie die Zukunft der Ethik im Arbeits- und Sozialrecht?

Thüsing: Ich denke, dass Ethik im Arbeits- und Sozialrecht in Zukunft eine noch größere Rolle spielen wird. Die Herausforderungen, die durch den technologischen Wandel und die zunehmende Flexibilisierung der Arbeitswelt entstehen, verlangen nach neuen rechtlichen Lösungen und dafür braucht es ethische Maßstäbe. Die Gesellschaft erwartet von Unternehmen, dass sie sich nicht nur an rechtliche Vorgaben halten, sondern auch Verantwortung übernehmen. Der good corporate citizen ist in aller Munde. Gleichzeitig wird der Druck auf Arbeitgeber und Personaler steigen, in schwierigen Situationen nicht nur rechtlich korrekt, sondern auch ethisch zu handeln. Der Ethikrat kann hier eine Rolle spielen, um diesen Prozess zu begleiten und die ethischen Standards weiterzuentwickeln.


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