Die Ethik der Verletzlichkeit von Giovanni Maio

Verletzlichkeit heißt, auf Wert­schätzung und gute, soziale Grund­bedingungen angewiesen zu sein. Das gilt auch und gerade für die Gestaltung der Arbeitswelt – und hat Konsequenzen für die Haltung von Führungskräften, wie Professor Giovanni Maio betont, der das Thema erforscht.

Personalmagazin neues lernen: Herr Maio, Sie forschen zum Thema Verletzlichkeit, das uns als Gesamtgesellschaft und auch in der Arbeitswelt angeht. Was verstehen Sie unter dem Begriff? 

Giovanni Maio: Verletzlichkeit ist eine Grundverfasstheit des Menschen, etwas, das wir, weil es unsere Natur ist, nicht ablegen können. Verletzlichkeit beschreibt die Angewiesenheit des Menschen auf ein Gegenüber, auf gute Grundbedingungen und seine Abhängigkeit von sozialen Verhältnissen. Der Begriff ist auch darum so gehaltvoll, weil er bereits eine Differenzierung in sich trägt. Verletzlichkeit heißt eben nicht, dass wir per se verletzt sind, sondern als Mensch genuin verletzlich.

neues lernen: Das heißt, Sie denken den Begriff Verletzlichkeit holistisch, also physisch und seelisch?

Maio: Definitiv. Verletzlichkeit berührt alle Sphären des Menschen. Der Begriff ist im Grunde eine Metapher. Es geht nicht nur um körperliche Verletzlichkeit, sondern um viel mehr. Wir werden auch verletzt, wenn jemand uns nicht beachtet, wenn wir alleine gelassen werden, wenn wir keine Anerkennung bekommen, uns Gleichgültigkeit begegnet. Denn der Mensch ist ein relationales Beziehungswesen, auf Begegnung und Anerkennung angewiesen.

Warum jeder Mensch verletzlich ist

neues lernen: Sie haben zur "Ethik der Verletzlichkeit" ein Buch veröffentlicht und auch bereits in einigen Podcasts dazu gesprochen. Warum treibt Sie das Thema so um?

Maio: Die Thematik der Verletzlichkeit ist für mich eine besonders wichtige, weil sie uns ermöglicht, einen neuen Blick auf den Menschen zu richten. Seit den 1970er Jahren hat sich zunehmend eine von der Ökonomie durchdrängte Denkweise etabliert. Der Mensch wurde fortan als autark, selbstmächtig, als Unternehmer seiner selbst betrachtet. Das stört mich. Natürlich ist der Mensch autonom, aber auch in seiner Autonomie bleibt der Mensch verletzlich. Mit der Verletzlichkeit, die beschreibt, dass Menschen aufeinander angewiesen sind, will ich kein gegensätzliches, aber ein komplementäres Bild erzeugen. Wenn der Mensch sich nur als Ich-AG begreift und das Soziale wie ein Unternehmen führt, riskieren wir, das Soziale abzubauen. Zu verstehen, dass der Mensch verletzlich ist, ist damit ein Appell.

Wenn der Mensch sich nur als Ich-AG begreift und das Soziale wie ein Unternehmen führt, riskieren wir, das Soziale abzubauen." – Giovanni Maio, Universität Freiburg


neues lernen: Inwiefern? 

Maio: Insofern, als dass wir alle als Gesellschaft dafür Sorge tragen müssen, dass der Mensch nicht verletzt wird. Wir brauchen eine Kultur der Sorge, eine Kultur, in der wir umsichtig miteinander umgehen. Wir müssen den anderen als verletzliches, weil angewiesenes Wesen erkennen und den Blick dafür schärfen, was andere Menschen benötigen, um nicht verletzt zu werden. Es ist unsere Verantwortung, Menschen günstige Bedingungen mitzugeben, damit sie so souverän wie möglich agieren können. Der Mensch braucht ein Gefühl der Selbstwirksamkeit, aber ohne andere und entsprechende Bedingungen, die auch andere für ihn kreieren, wird das Glück nicht gelingen. Das gilt natürlich auch – und gerade für die Arbeitswelt. Der Mensch ist keine Maschine, die einfach funktioniert. Wer im Arbeitsleben keine guten Bedingungen vorfindet, der wird nicht abrufen, was er kann.

neues lernen: Welche Bedingungen braucht es denn konkret, damit der Mensch sich unverletzt entfalten kann?

Maio: Menschen verbringen einen Großteil ihrer Lebenszeit bei der Arbeit. Insofern ist es zentral, dass sie sich in besonderer Weise mit dem identifizieren, was sie tun – und mit den Zielen dieses Tuns. Es muss Raum bestehen, Eigeninitiative und Freiheit bei der Arbeit zu haben. Die Arbeitsbedingungen müssen so geschaffen sein, dass sich der Mensch als integraler Teil eines Ganzen versteht, dessen Werte er auch teilt. Sich selbst als wichtigen und nicht austauschbaren Teil zur Zielerreichung zu verstehen, sich zugleich aber nicht nur als Instrument dafür, sondern als Persönlichkeit verstanden zu wissen. Das sind unabdingbare Grundbedingungen.

Die Verletzlichkeit des Menschen in der Arbeitswelt

neues lernen: In welchem Maß sind wir in der Arbeitswelt – in der Rolle der Mitarbeitenden – verletzlich? 

Maio: Gerade in der Arbeitswelt spielt Verletzlichkeit eine große Rolle. Hier kann ich als Mensch mit Situationen konfrontiert werden, die meinen Selbstwert tangieren, wenn ich mich als Niemand fühle, nicht wertgeschätzt und nicht gesehen werde. Wir brauchen also auch hier eine Kultur der Wertschätzung, denn jeder Mensch ist angewiesen auf Anerkennung in seinem beruflichen Tun. Das hängt auch nicht von dessen Position, Aufgabenlevel oder -fülle ab. Und natürlich müssen wir Berufliches von Privatem trennen. Wer aber als Beschäftigter verletzt wird, ist es als ganzer Mensch. Wir können unser Menschsein nicht professionell entkoppeln. Den Menschen auf seine Funktion zu reduzieren und das Menschsein bei der Arbeit zu ignorieren, wäre fatal. Wir dürfen nicht nur danach fragen: Was können wir von Beschäftigten fordern, sondern auch: Was können wir für sie tun?

Führungskräfte müssen sich für die Innen­perspektive der Mitarbeitenden interessieren, dialogisch agieren und Beschäftigte an not­­wendigen Veränderungs­prozessen partizipieren lassen." – Giovanni Maio, Universität Freiburg


neues lernen: Häufig sind es Führungskräfte, die etwas einfordern, Leistung und Engagement. Was bedeutet das Wissen um Verletzlichkeit für Führungskräfte?

Maio: Das eine ist zunächst: Jeder Mensch ist verletzlich, also auch Führungskräfte. Es gilt eben nicht: Führungskräfte sind stark und Mitarbeitende schwach. Wir brauchen das Bewusstsein einer geteilten Verletzlichkeit. Dazu gehört auch, dass Führungskräfte realisieren, wie abhängig sie von den anderen sind, dass wir nur gemeinsam weiterkommen. Man kann nur führen, wenn man die Fähigkeit hat, die anderen für die Ziele, die man verfolgt, zu überzeugen und mitzunehmen. Verordnen von oben reicht nicht. Führungskräfte müssen sich für die Innenperspektive der Mitarbeitenden interessieren, dialogisch agieren und Beschäftigte an notwendigen Veränderungsprozessen auch partizipieren lassen.

neues lernen: Was meinen Sie genau mit Innenperspektive?

Maio: Nicht das Privatleben, sondern die Bedürfnisse bei der Arbeit. Eine Führungskraft kann nur erfolgreich sein, wenn sie weiß, was in ihren Mitarbeitenden vorgeht, wenn sie arbeiten. Was freut sie besonders, was fehlt vielleicht bei der Arbeit? Fühlen sich meine Mitarbeitenden wohl? Kann ich noch etwas verbessern? Führungskräfte haben gegenüber ihren Mitarbeitenden eine Fürsorgepflicht. 

neues lernen: Lässt sich das Wohlbefinden bei der Arbeit immer von der privaten Perspektive trennen?

Maio: Natürlich kann es sein, dass Mitarbeitende durch private Lebenskrisen in eine Situation verschärfter Verletzlichkeit geraten, die die Arbeitswelt tangieren kann. Aufgabe der Führungskraft ist es, dafür sensibel zu bleiben – aber nicht in übergriffiger Weise, dass sich Mitarbeitende erklären müssen. Vielmehr geht es da­rum, die persönliche Begegnung zu suchen und eine Gesprächskultur aufzubauen, die ein Gefühl dafür gibt, wie es dem oder der anderen geht.

Führungskräfte zwischen Effizienz und Kreativität

neues lernen: Wohlfühlen bei der Arbeit hängt von vielen Faktoren ab. Viele beklagen, dass sich die Belastung und der Zeitdruck erhöht haben. Wie ordnen Sie das ein?

Maio: Zeitknappheit, Arbeitsdruck und zunehmende Belastung sind definitiv Faktoren, die den Menschen in seiner Verletzlichkeit treffen und verschärfen. Übersteigerter Arbeitsdruck macht krank. Der Kurs der Arbeitswelt darf nicht sein: Immer mehr Verdichtung. Menschen brauchen Herausforderungen, aber auch Freiräume, um frei denken zu können. Den Effizienzdruck, den Betriebe spüren, weil sie immer mehr Ausgaben haben, dürfen wir nicht auf Mitarbeitende verlagern. Wir müssen die Grenze der Belastbarkeit von Mitarbeitenden im Blick behalten, sonst verlieren sie ihre Identifikationsmöglichkeit.

neues lernen: In vielen Bereichen transformiert sich die Arbeitswelt Richtung flache Hierarchien, agile Organisation und Entscheidungsstrukturen. Trägt das dazu bei, das Bewusstsein für geteilte Verletzlichkeit und gemeinsames Tun zu erhöhen? 

Maio: Der Vorteil flacher Hierarchien ist der: Sie ermöglicht zum einen individuelle Kreativität. Menschen können kreativ sein, wenn man sie lässt. Zum anderen stiftet sie ein höheres Gemeinschaftsgefühl – das Gefühl, als Team ein Ziel erreichen zu wollen und zu können. Gleichwohl glaube ich, dass es Menschen geben muss, die Letztverantwortung übernehmen, die den Überblick zu allen Prozessen haben und nachjustieren können. Es braucht eine Balance aus der Notwendigkeit des Direktiven und der Ermöglichung individueller Kreativität.

neues lernen: Würden Sie Führungskräften insgesamt eine Vorbildfunktion zusprechen?

Maio: Wichtig ist zunächst, dass Führungskräfte authentisch bleiben und keine Rolle übernehmen, die ihnen nicht liegt. Ihrer Vorbildfunktion sollten sie sich insofern bewusst sein, als dass sich Mitarbeitende vor allem eines erhoffen: Gerechtigkeit. Nicht nur Leistungsgerechtigkeit, es geht um die Vermittlung gleicher Anerkennung für alle. Für ethische Grundprinzipien einzustehen, eine klare Haltung und Überzeugung mitzubringen. Kurzum: Integrität zu verkörpern. 

Warum es ein Gefühl von Gemeinschaft braucht

neues lernen: Wie schätzen Sie unsere Kultur gesamtgesellschaftlich ein? Ist der Mensch mehr verletzenden Faktoren ausgesetzt?

Maio: Ich bin grundsätzlich kein Kulturpessimist. Der Mensch hat eine natürliche Sehnsucht danach, mit anderen Menschen in guten Beziehungen zu leben. Das ist gut, heute aber definitiv schwieriger. Zwar haben wir die Möglichkeit, schneller mit anderen in Kontakt zu treten, was dabei aber verloren geht, ist die Verbindlichkeit und Tragfähigkeit von Beziehungen. Zugleich evoziert das einen Konformitätsdruck, das Gefühl immer interessant sein zu müssen, das in stetiger Selbstdarstellung mündet. Damit verliert man auch Authentizität, die so wichtig ist für die Widerspiegelung durch andere. Wir können klar sagen: Die Gefahr der Einsamkeit ist größer als je zuvor, weil verlässliche Beziehungen fehlen. 

neues lernen: Was könnten wir dagegen tun?

Maio: Wir müssen uns klar machen: Je virtueller die Welt wird, desto wichtiger werden echte menschliche Begegnungen. Wir brauchen Beziehungen, die tragfähig sind. Es reicht nicht, in das rein Virtuelle zu flüchten. Wir müssen Virtualität mit der Notwendigkeit verknüpft wissen, direkte menschliche Begegnungen zu fördern und Zuspruch zu erhalten. Wir müssen unsere Wahrnehmung für die Abhängigkeit des anderen schärfen.

neues lernen: Was heißt das aber für eine Arbeitswelt, die sich zunehmend flexibilisiert und in der konstante, direkte Kontakte nicht mehr gesichert sind?

Maio: Wenn ein Betrieb funktionieren soll, müssen die Menschen das Gefühl haben, dass sie eine Gemeinschaft bilden. Direkte menschliche Begegnungen sind nicht nur hilfreich, sondern notwendig, um Verbindlichkeit und Kontinuität herzustellen und der Volatilität entgegenzutreten. Flexibilität zu ermöglichen, heißt nicht, dass wir eine pure Beliebigkeit zulassen sollten. Sich virtuell zu begegnen, kann als Überbrückung und Erleichterung hilfreich sein. Und wenn ein Team bereits reale Bindungen aufgebaut hat, kann das auch verbindend sein. Aber sich nur im virtuellen Raum zu begegnen, das ist nicht verbindend. Wir brauchen eine Verknüpfung beider Modi und müssen Präsenz ermöglichen, um uns nahe zu bleiben und mehr voneinander zu erfahren als wir über Mails und Chats erfahren können.

neues lernen: Wenn wir von virtuellen Welten sprechen, liegt zum Abschluss ein Thema auf der Hand: künstliche Intelligenz. Wie stehen Sie dazu?

Maio: Der Begriff Intelligenz ist für mich eigentlich falsch. Wir sprechen von ausgefeiltem Rechnen und Korrelationen. Aber Einsicht in die gesamthafte Komplexität hat nur der Mensch, denn dafür braucht es verschiedene Formen kognitiver Leistungen: Vielleicht kann künstliche Intelligenz, wenn wir dennoch beim Begriff bleiben, eine traurige Stimme erkennen und errechnen, aber niemals wissen, was es etwa bedeutet, traurig zu sein. Computergestützte Entscheidungssysteme haben unbestritten großes Potenzial, Prozesse sicherer zu machen, zu beschleunigen, Daten zusammenzuführen und den Menschen zu unterstützen, aber niemals zu ersetzen.


Dieses Interview  ist erschienen in personalmagazin neues lernen, Ausgabe 3/2024, das Fachmagazin für Personalentwicklung. Als Abonnent haben Sie Zugang zu diesem Beitrag und allen Artikeln dieser Ausgabe in unserem Digitalmagazin als Desktop-Applikation oder in der App personalmagazin - neues lernen.


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