Wenn Macht toxisch wird
In den Korridoren der Unternehmen, wo Ambitionen auf Hierarchien treffen, entfaltet sich ein subtiles Schauspiel der Macht. Hier, in den Zwischenräumen menschlicher Interaktion, gedeiht oft unbemerkt die giftige Blüte der Toxizität. Doch warum ist es gerade die Macht, die den Nährboden für toxisches Verhalten bereitet?
Die Antwort liegt in der Natur der Macht selbst. Macht, in ihrer reinsten Form, ist die Fähigkeit, die Realität zu gestalten – sowohl die eigene als auch die anderer. In Unternehmen manifestiert sich diese Fähigkeit in der Kontrolle über Ressourcen, Entscheidungen und letztlich über das Schicksal anderer Menschen. Es ist diese Kontrolle, die den Keim der Toxizität in sich trägt.
Toxizität ist selten ein Zufall
Toxizität in Unternehmen ist selten ein Zufall (siehe Vredenburgh, D./Brender, Y. (1998): The Hierarchical Abuse of Power in Work Organizations. In: Journal of Business Ethics, 17, S. 1337–1347). Sie ist vielmehr das Ergebnis einer bewussten oder unbewussten Machtausübung, die die Grenzen des Ethischen und Moralischen überschreitet. Wenn Macht nicht mehr als Instrument des gemeinsamen Wachstums, sondern als Mittel zur Selbsterhöhung oder zur Unterdrückung anderer genutzt wird, entsteht ein Klima der Angst, des Misstrauens und der Manipulation.
Die unausgesprochene Wahrheit ist: Jeder Akt der Toxizität ist im Kern ein Akt der Machtausübung. Sei es die Chefin, die ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen durch ständige Kritik kleinhält, oder der Kollege, der durch Gerüchte und Intrigen die Karrieren anderer sabotiert – stets geht es darum, die eigene Position zu stärken, indem man andere schwächt. Doch warum verfallen Menschen in Machtpositionen so leicht der Versuchung der Toxizität? Nietzsche sprach vom "Willen zur Macht" (grundlegende menschliche Motivation, Einfluss und Kontrolle über die eigene Umwelt und über andere auszuüben) als treibende Kraft menschlichen Handelns. In Unternehmen kann dieser Wille pervertiert werden, wenn er nicht durch ethische Prinzipien und emotionale Intelligenz gezügelt wird. Die Illusion der Unantastbarkeit, die Macht oft mit sich bringt, kann zu einer gefährlichen Selbstüberschätzung führen, in der die Grenzen zwischen Führung und Tyrannei verschwimmen.
Toxizität der Macht
Um den Weg zu einem fairen Arbeitsumfeld zu ebnen, müssen wir diese unausgesprochene Wahrheit ans Licht bringen. Wir müssen erkennen, dass wahre Macht nicht in der Unterdrückung, sondern in der Ermächtigung anderer liegt. Ein Unternehmen, das auf gegenseitigem Respekt und Wertschätzung aufbaut, schafft einen Raum, in dem Macht konstruktiv genutzt wird – zur Förderung von Innovation, Kreativität und gemeinsamem Wachstum.
Die Überwindung toxischer Machtstrukturen erfordert Mut. Den Mut, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, den Status quo infrage zu stellen und für eine Kultur der Integrität einzustehen. Es erfordert eine kollektive Anstrengung, eine neue Ethik der Macht zu etablieren, in der Führung als Dienst am Gemeinwohl verstanden wird.
Der Weg vom toxischen zum fairen Arbeitsumfeld
Letztlich ist der Weg von einem toxischen zu einem fairen Arbeitsumfeld ein Weg der Bewusstwerdung. Es ist der Weg vom unreflektierten Machtmissbrauch zur bewussten, verantwortungsvollen Nutzung von Einfluss und Autorität. Nur wenn wir die intrinsische Verbindung zwischen Macht und Toxizität erkennen und aktiv dagegen angehen, können wir Unternehmen schaffen, die nicht nur wirtschaftlich erfolgreich, sondern auch menschlich erfüllend sind.
In diesem Streben nach einem faireren Arbeitsumfeld liegt vielleicht die größte unausgesprochene Wahrheit: Dass wir alle, unabhängig von unserer Position, die Macht haben, Veränderung zu bewirken. Es liegt an uns, diese Macht weise und zum Wohle aller einzusetzen.
Der Unterschied von Opfer oder Opferrolle
Opfer oder Opferrolle: Diese Frage hallt wie ein Echo durch die Korridore unseres Selbstverständnisses. Sie ist mehr als eine simple Überlegung; sie ist ein Spiegel, in dem wir unsere tiefsten Ängste und verborgenen Hoffnungen erblicken. In meinem Fall war sie der ständige Begleiter auf einer Reise, die von Rückschlägen und scheinbar unüberwindbaren Hürden geprägt war.
Nach zwei abgebrochenen Ausbildungen und mit einer Mutter, deren Überarbeitung kaum noch Raum für familiäre Wärme ließ, schien das Schicksal eine besondere Vorliebe dafür entwickelt zu haben, mich zu prüfen. Jeder neue Morgen brachte die bange Frage mit sich: "Wieso immer ich?" Es war, als ob ich in einem Labyrinth gefangen wäre, während andere den direkten Weg zum Ausgang fanden.
Heutzutage verstehen wir unter einem Opfer jemanden, der durch äußere Umstände oder durch das Handeln anderer Leid erfährt. Es ist eine Person, die etwas verloren oder erlitten hat, was sie nicht selbst verschuldet hat. Diese Definition beschreibt eine objektive Realität, eine Erfahrung, die unleugbar und oft schmerzlich ist.
Die Opferrolle hingegen ist ein subtilerer psychischer Zustand. Hier empfindet sich eine Person als hilflos und machtlos, verliert sich in Selbstmitleid und gibt die Kontrolle über ihr Leben scheinbar ab. Diese Wahrnehmung kann unabhängig davon existieren, ob die Person tatsächlich Opfer von Ungerechtigkeit oder Misshandlung geworden ist. Es ist ein mentales Konstrukt, eine Linse, durch die die Welt betrachtet wird.
Die Versuchung, sich in der Opferrolle einzurichten, kann überwältigend sein. Sie bietet eine verführerische Erklärung für die Widrigkeiten des Lebens, eine Art tröstliches Schutzschild gegen die harte Realität. Doch dieses Schutzschild kann schnell zu einem Gefängnis werden, das uns von persönlichem Wachstum und Veränderung abhält.
Um zu verstehen, ob wir in einer Opferrolle gefangen sind oder tatsächlich Opfer der Umstände sind, müssen wir tiefer graben. Wir müssen die Wurzeln unserer Erfahrungen freilegen und kritisch hinterfragen, wie wir auf die Herausforderungen des Lebens reagieren.
Buchtipp: Emre Çelik, "Unausgesprochene Wahrheiten. Von toxischem Verhalten zu einem fairen Arbeitsumfeld.", Haufe-Verlag, 2024. |
Zunächst einmal ist es wichtig anzuerkennen, dass Leid real ist. Meine abgebrochenen Ausbildungen und die Abwesenheit meiner überarbeiteten Mutter waren keine Einbildung, sondern schmerzhafte Realitäten. Diese Erfahrungen haben Spuren hinterlassen, haben meine Sicht auf die Welt und mich selbst geprägt. Sie kleinzureden, wäre eine Form der Selbstverleugnung.
Doch die entscheidende Frage ist: Wie gehen wir mit unseren Erfahrungen um? Sehen wir sie als endgültige Verurteilung oder als Herausforderungen, an denen wir wachsen können? Die Opferrolle verführt uns dazu, in der Passivität zu verharren, uns als hilflosen Spielball des Schicksals zu sehen. Sie flüstert uns zu: "Du kannst nichts dafür, du kannst nichts ändern."
Aber ist das wirklich so? Betrachten wir meine Situation genauer. Ja, die abgebrochenen Ausbildungen waren Rückschläge. Doch in jedem Scheitern lag auch eine Lektion. Vielleicht waren diese Ausbildungen nicht der richtige Weg für mich. Vielleicht zeigte mir das Leben, dass meine Talente und Leidenschaften in eine andere Richtung weisen. Die Herausforderung besteht darin, diese Erfahrungen nicht als Endpunkt, sondern als Wegweiser zu betrachten.
Die Abwesenheit meiner Mutter, so schmerzhaft sie auch war, lehrte mich früh Selbstständigkeit und Empathie. Ich lernte, die Opfer zu verstehen, die andere bringen, und entwickelte ein tiefes Verständnis für die Komplexität des Lebens. Diese Erfahrungen, so hart sie auch waren, formten mich zu der Person, die ich heute bin.
Die Erkenntnis der eigenen Handlungsmacht
Der Weg aus der Opferrolle führt über die Erkenntnis unserer eigenen Handlungsmacht. Es geht darum zu verstehen, dass wir zwar nicht immer die Umstände kontrollieren können, aber stets die Wahl haben, wie wir darauf reagieren. Jeder Rückschlag bietet die Möglichkeit, neue Stärken zu entdecken, neue Wege zu finden.
Dies bedeutet nicht, dass wir die Schuld für alles Negative in unserem Leben auf uns nehmen sollten. Es gibt reale Opfer von Umständen, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen. Diskriminierung, systemische Ungerechtigkeit, Naturkatastrophen – diese Dinge geschehen, ohne dass wir sie uns ausgesucht haben. Doch selbst in diesen Situationen haben wir die Wahl, wie wir damit umgehen, wie wir uns positionieren und welche Schritte wir unternehmen, um unsere Situation zu verbessern.
Der Schlüssel liegt in der Differenzierung. Es ist wichtig, die Realität unserer Erfahrungen anzuerkennen, ohne in ihnen gefangen zu bleiben. Wir müssen lernen, zwischen den Dingen zu unterscheiden, die wir ändern können, und jenen, die außerhalb unserer Kontrolle liegen. Diese Unterscheidung ermöglicht es uns, unsere Energie und unsere Ressourcen auf die Bereiche zu konzentrieren, in denen wir tatsächlich etwas bewirken können. Dieser Spagat zwischen Anerkennung des Opferseins und Ablehnung der Opferrolle ist eine der größten Herausforderungen, der wir uns stellen müssen.
Die Philosophie des Existenzialismus lehrt uns, dass wir zur Freiheit verdammt sind. In jedem Moment haben wir die Wahl, wie wir auf unsere Umstände reagieren. Diese Freiheit ist zugleich Geschenk und Bürde. Sie ermöglicht uns, aus der Opferrolle auszubrechen, verlangt aber auch, dass wir die volle Verantwortung für unser Leben übernehmen.
Zwischen Anerkennung und Handlung
Doch diese Verantwortung darf nicht mit Schuld verwechselt werden. Es geht nicht darum, uns selbst für die toxischen Umstände verantwortlich zu machen, sondern darum, die Verantwortung für unsere Reaktion darauf zu übernehmen. Es ist der Unterschied zwischen "Es ist meine Schuld, dass mir das passiert ist" und "Es liegt in meiner Macht, darauf zu reagieren".
In diesem Spannungsfeld zwischen Anerkennung und Handlung liegt der Schlüssel zur Überwindung toxischer Dynamiken. Es erfordert von uns eine fast paradoxe Haltung: Wir müssen gleichzeitig weich genug sein, um unser Leid anzuerkennen, und stark genug, um darüber hinauszuwachsen.
Diese Reise der Selbsterkenntnis und Selbstermächtigung ist nicht linear. Sie gleicht eher einer Spirale, in der wir immer wieder ähnliche Themen auf neuen Ebenen bearbeiten. Jede Runde bringt uns tiefer zu unserem wahren Selbst und weiter weg von den toxischen Narrativen, die uns gefangen halten wollen.
Selbsterkenntnis als Schlüssel zur Überwindung toxischer Dynamiken
Letztendlich geht es darum, eine neue Art des Seins in der Welt zu kultivieren. Eine, die weder in Selbstmitleid versinkt noch die Realität leugnet. Es ist ein Weg der Mitte, der Achtsamkeit und des bewussten Handelns. Auf diesem Weg lernen wir, die toxischen Einflüsse in unserem Leben zu erkennen, ohne uns von ihnen definieren zu lassen. In dieser bewussten Haltung liegt die wahre Befreiung. Sie ermöglicht uns, die Opfererfahrung als Teil unserer Geschichte zu akzeptieren, ohne in der Opferrolle gefangen zu bleiben.
So navigieren wir auf dem schmalen Grat zwischen Opfersein und Opferrolle, immer im Bewusstsein unserer Verletzlichkeit und unserer Kraft. In dieser Balance finden wir nicht nur Heilung, sondern auch die Fähigkeit, anderen auf ihrem Weg beizustehen. Denn indem wir lernen, uns selbst aus toxischen Dynamiken zu befreien, werden wir zu Leuchttürmen für jene, die noch im Nebel der Unsicherheit wandeln.
Mein eigener Weg führte mich zu der Erkenntnis, dass meine vermeintlichen Schwächen in Wahrheit Stärken sein können. Die Erfahrungen des Scheiterns und der Einsamkeit haben mich empathischer, resilienter und kreativer gemacht. Sie haben mir eine Perspektive gegeben, die ich sonst vielleicht nie erlangt hätte.
Die Frage "Bin ich ein Opfer oder befinde ich mich in einer Opferrolle?" ist letztlich eine Aufforderung zur Selbstreflexion und zum Handeln. Sie lädt uns ein, unsere Narrative zu hinterfragen und neu zu schreiben. Statt uns als passive Empfänger des Schicksals zu sehen, können wir uns als aktive Gestalter unserer Lebensgeschichte begreifen. Dies ist kein einfacher Prozess. Er erfordert Mut, Ehrlichkeit und oft auch die Bereitschaft, schmerzhafte Wahrheiten anzuerkennen. Doch in dieser Auseinandersetzung liegt der Schlüssel zu persönlichem Wachstum und Veränderung.
Meine Geschichte, geprägt von Rückschlägen und Herausforderungen, ist nicht das Ende meiner Reise, sondern ihr Anfang. Jeder abgebrochene Weg hat mich näher zu meinem wahren Ich gebracht. Jede Erfahrung der Einsamkeit hat mich gelehrt, tiefer zu fühlen und stärker zu sein.
In der Erkenntnis, dass wir sowohl Opfer als auch Gestalter unseres Schicksals sein können, liegt eine befreiende Kraft. Sie ermöglicht es uns, mit Mitgefühl auf unsere Vergangenheit zu blicken und mit Hoffnung in die Zukunft zu schauen. Sie lädt uns ein, unsere Geschichte neu zu schreiben – nicht als passive Empfänger des Schicksals, sondern als mutige Protagonisten unseres eigenen Lebens.
Dieser Beitrag ist erschienen in Personalmagazin 12/2024. Als Abonnent haben Sie Zugang zu diesem Beitrag und allen Artikeln dieser Ausgabe in unserem Digitalmagazin als Desktop-Applikation oder in der Personalmagazin-App.
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