„Vergütung ist der Dreh- und Angelpunkt für Selbstorganisation“
Selbstorganisation im öffentlichen Dienst? Das geht
Herr Kraus, Selbstorganisation im öffentlichen Dienst – wie sind Sie auf die Idee gekommen?
Wenn es um neue Verantwortlichkeiten geht, sagen Mitarbeiter in der Verwaltung gern: „Das steht nicht in meiner Stellenbeschreibung, das soll der Chef machen.“ Neben dieser leidigen Grundhaltung, die der öffentliche Dienst leider bei vielen generiert, ergab eine stadtweite Befragung der Mitarbeiter, dass sie keine Entwicklungsmöglichkeiten sehen – weder persönlich noch monetär. Wer Geselle ist, also eine normale Ausbildung hat, wird einmal eingruppiert und bleibt dann in dieser Gehaltsgruppe – oft bis zur Rente. Ohne höhere fachliche Qualifizierung erleben die Beschäftigten viele Karriere-Hürden. Das hat mich schon immer gestört. Außerdem haben sich die Leute im Bauhof ständig über den Betriebsablauf beklagt. Als dort dann eine Meisterstelle frei wurde, haben wir den Versuch gewagt.
Waren denn gleich alle von der Idee begeistert?
Die Idee fiel in eine günstige Zeit. Prof. Dr. Claudia Schneider von der Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen in Ludwigsburg, die wir schon von der Initiative „Zukunftsfähiges Herrenberg“ kannten, war sofort Feuer und Flamme. Sie hat das Pilotprojekt dann mit ihrem Team wissenschaftlich begleitet. Auch die Stadtspitze war offen, etwas zu verändern und auszuprobieren. Im damals zwölfköpfigen Team des Bauhofs war die Skepsis groß, die Unzufriedenheit aber auch. Die Leute wussten, so eine Chance kriegen sie nie wieder. Sie haben sich dann mehrheitlich dafür entschieden und eine entsprechende Vereinbarung unterzeichnet, dass sie bereit sind, in Selbstorganisation zu arbeiten und auch von Kollegen Anweisungen entgegen zu nehmen.
Selbstorganisation ist ein Lernprozess
Wie beginnt man mit Selbstorganisation?
Wir haben vorher alles von vorne bis hinten durchdekliniert, bis wir gesagt haben, so können wir uns das vorstellen. Bei uns stand es jedem im Team offen, sich für eine Führungsrolle zu melden, um gemeinsam die Aufgaben des Meisters zu übernehmen.
Was wird in der neuen Führungsrolle von den Beschäftigten erwartet?
Die Rolle des Meisters besteht zum größten Teil darin, die Leute anzuleiten und das Geschäft zu verteilen. Wir machen im Bauhof alles von Stadt- und Grünflächenreinigung über Verkehrssicherheit und Fuhrparkmanagement bis hin zu Tiefbauarbeiten und Logistik von Events. Normalerweise sind die Meister diejenigen, die rausfahren und mit den Kunden, also den verschiedenen Ämtern, sprechen, schauen, was zu tun ist und alles organisieren. Es hat von Anfang an wahnsinnig gewirkt, dass die Führung auf verschiedene Leute verteilt worden ist, die einander ergänzen. Da wird man viel agiler. Aktuell sind fünf Leute in der Führungscrew und alle kommen aus anderen Bereichen. Trotzdem können sie einander vertreten. Und wir haben die Funktion des „Vier-Wochen-Manns“.
Ein Führungsteam füllt die Stelle des Meisters aus
Was ist das für eine Rolle, der „Vier-Wochen-Mann“?
Das Team hat schnell gemerkt: Es braucht einen zentralen Ansprechpartner für die Kunden. Die fünf aus dem Führungsteam rollieren dabei durch. Alle vier Wochen schlüpft quasi ein anderer in die Rolle des Meisters. Sie müssen telefonisch und vor Ort mit den Kunden reden, sind also draußen oder am Schreibtisch, nehmen die Aufträge auf und geben sie weiter. Da muss hier mal eine Baustelle angeschaut werden und da braucht es neue Markierungsarbeiten. In den vier Wochen machen sie die sichtbare Führungsarbeit nach außen. Die anderen führen in der Zeit auch, aber eben mehr nach innen. Letztlich führt immer das Kollektiv.
Inwiefern läuft das besser als vorher?
Morgens sprechen sich alle ab, was ansteht und wie sie das am geschicktesten aufteilen. Wenn jemand in einem Ort den Keller im Kindergarten ausmüllen soll, dann übernimmt das vielleicht einer von der Schilderwerkstatt, weil er dort sowieso ein Schild abschrauben muss. Auch zwischendurch schieben sie die Aufträge hin und her, wenn zum Beispiel einer gerade irgendwo nicht wegkommt. Das war früher ganz anders, da hat der Meister alle auf die Reise geschickt, danach mussten sie in den Bauhof zurück und den nächsten Auftrag holen. Manchmal wurden sie zurückgerufen, weil gerade vermeintlich irgendetwas wichtiger war. Dann hieß es, dass soll doch der Kollege machen, der gestern schon nichts geschafft hat. Jetzt ist das ein Miteinander.
Selbstorganisation: Nicht jeder will führen
Wie leicht ist es den Beschäftigen gefallen, in Führung zu gehen?
Wir haben hier viele ungeschliffene Diamanten. Die haben das Zeug zu so viel mehr und hätten auch studieren können. Aber es gibt auch Beschäftigte, die noch nicht so weit sind, Führung zu übernehmen. Am Anfang haben sich acht Leute freiwillig für die Führungsrolle gemeldet. Einer ist gegangen, weil er bei der Feuerwehr einen höher dotierten Job bekommen hat – dafür hat er sich durch die Selbstorganisation qualifiziert. Die zwei anderen hingegen kamen einfach mit dieser neuen Welt nicht klar. Da gab es immer wieder Differenzen und sie wollten sich von ihren Kollegen nichts sagen lassen. Anfangs hatte das Team teilweise richtig Ärger. Früher war der Chef der Steigbügelhalter: Da konnten sie ja zum Meister gehen, wenn es ein Problem gab. Heute müssen sie Konflikte selbst untereinander regeln.
Wie unterstützen Sie beim Konfliktmanagement?
Am Anfang muss man sehr viel moderieren und coachen. Da ist vor allem die nächsthöhere Führungskraft stark gefordert. Das geht nicht ohne zeitgleiche Qualifizierung. Da saßen die Leute aus der Selbstorganisation zusammen mit dem OB im Führungskräfteprogramm von der Stadt. Das funktioniert und die sind sehr aufmerksam und sensibel, auch was Sicherheitsfragen betrifft.
Selbstorganisation ist rechtlich möglich
War das denn rechtlich so einfach? Nur der Meister kann ja normalerweise bestimmte Dinge abnehmen.
Ja, natürlich mussten wir auch rechtliche Probleme überwinden. Wir haben die Fragen dazu gesammelt und mit der Rechtabteilung, dem Personalamt, dem Personalrat oder den Fachämtern durchgespielt. Heute muss eben ich statt des Meisters haften, weil ich nun der nächsthöhere Vorgesetzte bin. Aber mit der Selbstorganisation steigt die Verantwortung, so dass ich mich da auf die Leute vom Bauhof verlassen kann. Das bringt sogar viele Verbesserungspotentiale zu Tage. Die schauen, wie können sie etwas in ihrem Bereich besser und schneller machen.
Die Mitarbeiter wissen besser als die Führungskraft, was sie brauchen
Zum Beispiel?
Thema Digitalisierung: Die gucken, ob es eine Software am Markt gibt, die ihnen wirklich hilft. Auch bei der Bewässerung und beim Müllaufkommen schauen sie eigenständig, wie wir das besser managen können. Da sind ganz viele Ideen auf dem Weg, die wir gerade testen. Die neue Führungscrew stellt selbst neue Leute ein und hat auch schon welche in der Probezeit entlassen. Einmal haben sie sogar eine Stelle umgewandelt. Statt einem Maler haben sie eine Verwaltungskraft eingestellt, weil sie da mehr Bedarf hatten. Auf diese Idee wäre ich gar nicht gekommen. Bei all dem zeigt sich: Der Leidensdruck des Teams ist größer als die der Führungskräfte. Die müssen nicht jeden Tag mit den anderen direkt zusammenarbeiten.
Der soziale Druck im Team steigt demnach. Birgt das nicht auch Gefahren?
Die, die nicht ins Team passen, werden ganz schnell mürbe und fühlen sich nicht wohl. Die Mitarbeiter sind sehr klar und sprechen das auch aus. Nach dem Motto, wenn es Dir hier nicht passt, wie wir gemeinsam entscheiden, dann musst Du Dir überlegen, ob Du hier noch richtig bist. Sie möchten das nicht schlucken, wenn sie täglich ihre Arbeit machen und die anderen nicht mitziehen. Wenn Sie im öffentlichen Dienst jemand kündigen möchten, dann geht das nur über entsprechende Dokumentation und Abmahnverfahren. Das macht niemand gerne. Wir müssen natürlich darauf achten, dass niemand in die persönliche Isolation getrieben wird – womöglich aus ganz anderen Gründen. Gleichzeitig können wir dadurch erkennen, wo es hakt, zum Beispiel bei der Personalauswahl. Das Team hat sich selbst gesagt, da müssen wir besser werden. Sie haben nun eingeführt, dass alle neuen Leute zuerst zur Probe arbeiten.
Die Bereitschaft, mehr Verantwortung zu übernehmen, hängt eng mit der Vergütung zusammen. Wie vergütet man Selbstorganisation im engen Korsett des TVöD?
Wir haben das Budget für das Meistergehalt nicht einfach eingespart, sondern zahlen es über den Trick der Einmalzahlung im Februar an die Führungscrew aus. Sonst hätte es ja geheißen, das ist alles nur eine Sparmaßnahme.
Waren die Beschäftigten aus Ihrer Sicht durch das Geld motiviert, Führung zu übernehmen?
Vergütung ist der Dreh- und Angelpunkt für Selbstorganisation. Am Anfang war das zusätzliche Geld einer der Hauptgründe, eine Führungsrolle in der Selbstorganisation zu übernehmen. Heute würden sie ihre Entwicklung auch nicht mehr zurückdrehen wollen. Eine interessante Geschichte ist, wie die Leute aus dem Führungsteam das Meistergehalt aufteilen: Zunächst waren sie großzügig und haben entschieden, dass nicht alles nur für sie sein soll. Auch die Kollegen, die in der Selbstorganisation arbeiten, sollten partizipieren. 70 Prozent bekam die Führungscrew und 30 Prozent ging an anderen Teammitglieder. Nach einem Jahr haben sie aber gemerkt, Führung ist kein Ponyhof und es gibt Leute, die einfach ihre Arbeit wie bisher weitermachen. Sie haben dann nur noch zehn Prozent standardmäßig verteilt und gemeinsam im Führungsteam überlegt, wer ein bisschen mehr bekommt – weil sich jemand selbst führt und ihnen so Arbeit abnimmt. So wurde das Meistergehalt ein monetärer Hebel, um zu signalisieren, dass Selbstführung honoriert wird.
Selbstorganisation hört beim Geld nicht auf
Im TVöD gibt es auch eine Leistungsprämie, die sogenannte „Leistungsorientierte Bezahlung“ (LoB). Dabei beurteilt der Vorgesetzte die Leistung der Beschäftigten. Wie haben Sie das in die Selbstorganisation übertragen?
Die Beurteilung durch den Vorgesetzten ist ja subjektiv und meist sehr umstritten. Da heißt es, das kriegt immer der Liebling vom Chef. In der Selbstorganisation übernimmt diese Bewertung das gesamte Team als kollegiale Leistungsbeurteilung. Gemeinsam mit der Hochschule Ludwigsburg haben wir einen neuen Prozess erarbeitet, mit einem detaillierten Moderationsleitfaden: Im Bauhof sind pro Jahr für alle 5.000 bis 6.000 Euro zu verteilen – die liegen quasi als Geldtopf auf dem Tisch. Dann hat jeder Zeit zu erklären, warum er wie viel aus dem Topf verdient hat. Da geht es nicht darum, die reguläre Arbeit zu machen, sondern um die extra Schippe oben drauf. Während beim Meistergehalt die Führungsarbeit zählt, kommt es hier auf den persönlichen Einsatz an. In der zweiten Runde darf dann jeder die Forderungen der Kollegen kommentieren.
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