Schwerbehindertenrecht: Praxistaugliche Reformen notwendig


Arbeitsrecht: Reformen im Schwerbehindertenrecht nötig

Das Schwerbehindertenrecht ist reformbedürftig - nicht durch mehr Bürokratie, wofür zuletzt der Gesetzgeber gesorgt hat, sondern durch Anpassung an betriebliche Gegebenheiten und Strukturen. Unser Kolumnist Alexander R. Zumkeller kann dafür genügend Gründe liefern.

Etwa 43 Millionen Erwerbstätige arbeiten in Deutschland. Wenn es nach dem Gesetz geht –  § 71 Abs. 1 SGB IX – müssten davon fünf Prozent, also etwa 2,15 Millionen, schwerbehinderte Menschen sein. Allerdings: Für Kleinunternehmen gelten andere Regeln, sodass im Ergebnis knapp 1,1 Millionen der Beschäftigten schwerbehinderte Menschen sein müssten. Das IW geht in einer neueren Untersuchung davon aus, dass die gesetzliche Quote nahezu erfüllt sei. Nur nahezu? Kann es dann korrekt sein, dass sich die Arbeitgeber "freikaufen" können?

Die Fakten: Krankheit als Ursache für Schwerbehinderung

Schauen wir uns erst einmal die Zahlen an, soweit sie etwa über das Statistische Bundesamt verfügbar sind: Im typischerweise erwerbsfähigen Alter sind von den insgesamt rund 7,6 Millionen schwerbehinderten Menschen in Deutschland etwa 2,2 Millionen. Diese erstaunliche Differenz liegt daran, dass der Anteil der schwerbehinderten Menschen im Bereich der 65-Jährigen (und älter) deutlich über 50 Prozent beträgt.

Verabschieden müssen wir uns von dem Gedanken, der vielen Älteren noch vorschwebt: das Bild vom "Schwergeschädigten". Das mag in der Nachkriegszeit noch gegolten haben, aber glücklicherweise beträgt die Zahl der durch Unfall, Berufskrankheit und Kriegsbeschädigung Beeinträchtigten heute lediglich etwas über 150.000 Menschen. Dagegen ist erschreckend: Beim größten Anteil der schwerbehinderten Menschen, nämlich über 6,5 Millionen Menschen, ist deren Behinderung auf allgemeine Krankheiten zurückzuführen.

Das ursprüngliche Bild des schwerbehinderten Menschen gibt es in den meisten Fällen also nicht mehr. Die Zahlen machen klar: zu "sehen" ist die Schwerbehinderung in den wenigsten Fällen.

Das Bewerbungsverfahren: Die Frage nach der Schwerbehinderung

Natürlich fragen Arbeitgeber bei der Einstellung nicht nach einer Schwerbehinderung. Das ist auch untersagt. Erst, wenn das Arbeitsverhältnis sechs Monate besteht (also Kündigungsschutz gegeben ist), ist die Frage statthaft (BAG 16.02.2012, Az 6 AZR 553/10).

Um nicht missverstanden zu werden: Ich halte das für richtig, andererseits aber auch für bedenklich. Denn einmal erschwert dies dem Arbeitgeber, die Quote zu erfüllen. Zum anderen ist es weltfremd zu denken, der Arbeitgeber könne sozusagen routinemäßig im Monat Sieben nach der Schwerbehinderung fragen. Eine solche Aktion würde – im Vergleich zur Einstellung – zu Aufruhr in der Belegschaft führen. Zudem wird (mit der Ausnahme, dass eine Restrukturierungswelle den Beschäftigten treffen könnte) eine unrichtige Angabe – nämlich das Verneinen der Schwerbehinderteneigenschaft trotz deren Vorliegens – keine wesentlichen Beeinträchtigungen des schwerbehinderten Beschäftigten nach sich ziehen.

Schwerbehinderte: Schweigen sie und verzichten?

Ja, bei einer unrichtigen Angabe hätte der schwerbehinderte Beschäftigte keine fünf Tage Zusatzurlaub. Aber: Er braucht sich auch nicht zu "outen". Zudem muss er sich nicht – oft sicherlich unwürdige – Anmerkungen der "Kollegen", beispielsweise, sie hätten schließlich weniger Urlaub, gefallen lassen.

Auch ist er nicht Fragen nach dem Grund der Schwerbehinderung ausgesetzt. Wer einmal die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit nach dem Schwerbehindertengesetz" durchgelesen hat, weiß schnell: Die wenigsten wollen über den Hintergrund ihrer Schwerbehinderung sprechen. Klar, rechtlich gesehen müssen sie das auch nicht. Aber jeder, der den Einwand bringt, muss überlegen, ob dieser realistisch ist – in einer Gesellschaft, die sich über Kommunikation definiert. Freunde findet man jedenfalls nicht mit dem Satz: "Ich muss Dir das nicht sagen."

Tatsächliche Quote und Inklusion: Was jetzt zu tun ist

Nach alledem sind diese Folgerungen festzuhalten, beziehungsweise müssen die folgenden Punkte angegangen werden:

  • Erstens: die Quote ist formal wohl zu niedrig. Wenn es rund zwei Millionen schwerbehinderte Menschen im erwerbsfähigen Alter gibt, müssten diese alle eine Chance auf Arbeit haben. Das wäre dann aber wohl mehr als die gesetzlichen fünf Prozent, und/oder Kleinbetriebe müssten einbezogen werden.
  • Zweitens: Die tatsächliche Quote der schwerbehinderten Beschäftigten ist deutlich höher als die statistisch evaluierten 4,7 Prozent. Die Dunkelziffer – zum einen derjenigen, die objektiv schwerbehindert sind, aber keine Anerkennung haben, und zum anderen derjenigen, die anerkannt sind, dies aber ihrem Arbeitgeber nicht offenbaren (aus welchem Grund auch immer) – ist nicht zu erfassen. Gerade weil die Schwerbehinderung in den meisten Fällen nicht "sichtbar" ist. Auch nicht erfasst sind die schwerbehinderten Beschäftigten in Kleinbetrieben und die Selbstständigen. Ja, schwerbehindert zu sein heißt nicht, nicht selbstständig arbeiten zu können.
  • Drittens: Inklusion bedeutet, sich gerade keine Gedanken zu machen über Geschlecht, Ethnie, Behinderung et cetera, sondern die oder den am besten Geeignete(n) auszuwählen. Leider zwingt der Gesetzgeber die Arbeitgeber immer wieder zu statistischen Kunststücken, statt echte, intrinsische Inklusion zu betreiben – nämlich überhaupt nicht auf diese Merkmale zu achten. Ich bin überzeugt davon, dass das kontraproduktiv ist.

Administration vermeiden, Offenbarungspflicht einführen

  • Viertens: administrative Mängel beheben. Die Leistungen der Integrationsämter, zum Beispiel bezüglich der Unterstützung mit Arbeitsmitteln für schwerbehinderte Menschen, sind hervorragend – aber leider mit (zu) viel Administration begleitet. Die Berechnung der Quote auf der Arbeitgeber- statt auf Betriebs- oder Konzernebene, ist in Matrixstrukturen verfehlt. Dass der schwerbehinderte Beschäftigte sich derzeit beim Arbeitgeber melden muss, damit dieser die Quote feststellen kann, macht die Dunkelziffer erst möglich und nicht absehbar. Stattdessen wäre doch denkbar, dass zum Beispiel über das Integrationsamt automatisch eine Zuordnung etwa zur Betriebsnummer erfolgt.  
  • Fünftens: Solange es eine Quote gibt und vielleicht auch geben muss, bedarf es einer Offenbarungspflicht des Beschäftigten. Vielleicht erst nach Ablauf von sechs Monaten Betriebszugehörigkeit, aber längstens innerhalb eines Jahres nach Beginn des Arbeitsverhältnisses oder nach Feststellung. Wird diese Offenbarungspflicht nicht eingehalten, entfallen alle Ansprüche – vom Zusatzurlaub bis hin zum besonderen Kündigungsschutz – und zwar bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses. Denn es gibt keinen Grund, das Schweigen – und damit den Schaden des Arbeitgebers durch die Zahlung der Ersatzabgabe – zu decken und den Schutz des Gesetzes erst zu dem Zeitpunkt zuzubilligen, zu dem es opportun erscheint (meist bei der anstehenden Kündigung).
  • Sechstens: soziale Selbstverständlichkeit. Das ist nicht (nur) Aufgabe des Arbeitgebers, es umfasst auch inkludierte Kindergärten, Schulklassen, barrierefreie Kindergärten, Schulen, Universitäten…. Aber es ist leider wie so oft: Die Politik fordert vom (privaten) Arbeitgeber, die Eigenleistung bleibt zurück.

Fazit: Schwerbehindertenrecht reformieren

Das Schwerbehindertenrecht ist in Hinblick auf die Beschäftigung nicht überholt und vielleicht (noch) nicht obsolet. Aber: Es ist reformbedürftig. Nicht jedoch, wie es der Gesetzgeber zuletzt – durch Einziehen von mehr Bürokratie bei Einstellung und Kündigung – angegangen ist, sondern durch Anpassung an reale Gegebenheiten und Strukturen.


Alexander R. Zumkeller, Präsident des Bundesverbands der Arbeitsrechtler in Unternehmen (BvAU), blickt in seiner Kolumne aus der Unternehmenspraxis auf arbeitsrechtliche Themen und Trends.

Schlagworte zum Thema:  Schwerbehinderte, Arbeitsrecht