Kennen Sie Art. 140 GG? Nein? "Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes", heißt es da. Alles klar? Wieder nein? Dann lassen Sie mich ein wenig weiterhelfen.
In Artikel Art. 136 steht (zumindest auszugsweise) in Absatz 1: "Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt."
Und in Absatz 4: "Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden."
Und Art. 137 Abs. 3 enthält folgende Regelung: "Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbstständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. […]"
Weimarer Reichsverfassung: Warum ich sie nicht verstand und verstehe?
Ich gebe zu, ich habe diese Vorschrift der Weimarer Reichsverfassung (WRV) schon während des Studiums "falsch" verstanden, nach Auffassung meiner akademischen Lehrer hieß das "gar nicht verstanden". Ich dachte – naiv: Die Kirche regelt ihre Angelegenheiten selbst – wie jeder Verein seine Satzung oder sein Vereins-Schiedsgericht selbst regeln kann. Beitritt, Austritt, Rechte und Pflichten gegenüber und im Verein. Aber: Ist das Arbeitsverhältnis mit einer Kirche eine "eigene Angelegenheit"?
Und auch das Bundesverfassungsgericht verstand (und verstehe) ich – folgerichtig – nicht, wenn es ausführt, dass Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 WRV als speziellere Norm dem Art. 4 GG vorgehe – zumindest insoweit, als Art. 137 WRV das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften der Schranke des für alle geltenden Gesetzes unterwerfe (sogenannte Schrankenspezialität). Gerade andersherum wurde und wird für mich ein Schuh daraus: Die Rechte der Kirche enden eben und genau da, wo allgemeine Regelungen beginnen. Und mir ist insbesondere ein Fall – er muss aus den 1980er Jahren stammen – im Hinterkopf, in dem eine Kindergärtnerin sich erdreistete, nackt (sic!) in der Sauna zu schwitzen – und diesenthalber gekündigt wurde.
Sonderstellung der Kirche: Loyalitätspflichten ja, aber in Grenzen
Kein Zweifel: Loyalitätspflichten gegenüber dem Arbeitgeber bestehen. Und Verstöße hiergegen können (gegebenenfalls nach einer Abmahnung) zu einer Kündigung führen. Und sicher ist richtig, dass bei einer Kirche oder einer anderen Richtungsvereinigung oder bei einem Tendenzbetrieb (also einer Partei, Gewerkschaft usw.) diese Loyalitätspflichten andere, vielleicht weitergehende sein mögen, als bei normalen privatrechtlichen Arbeitgebern – und zudem in das private Verhalten hineinreichen können.
Aber: Zumindest bedarf es auch einer Abstufung der "Nähe" zum Tendenzträger. Dass der Priester gegebenenfalls etwas enger an Richtlinien auch im Privatleben gebunden sein mag als der Organist, kann noch einsichtig sein – schon wegen der anzuerkennenden "Missio Canonica", die diese zu vertreten und zu verbreiten haben (wobei Jesus – dem Neuen Testament nach – den Sündern gegenüber aufgeschlossener schien, als es manchmal die Kirche – kirchenarbeitsrechtlichen Urteilen nach – zu sein scheint).
Kirchliches Arbeitsrecht und Menschenrechtskonvention: Passt das?
Als Korrelat gibt es glücklicherweise die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Dass für die katholische Kirche die eheliche Treue ein zentrales Gebot ihrer Glaubens- und Sittenlehre und Ehebruch daher eine schwere sittliche Verfehlung sein soll, ist wohl so. Und dass die deutschen Gerichte dies akzeptierten und festhalten, dass diese Vorgaben der Kirchen nicht der Rechtsordnung widersprechen, stellt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) auch fest.
Aber: Zu der Rechtsordnung gehören auch die Grund- und Freiheitsrechte der Konvention, darunter das Recht des Art. 8 EMRK. Damit ist klar: Das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (eben Art. 8 EMRK) muss bei Wiederverheiratung - im Duktus der katholischen Kirche "Bigamie" - auch gelten. Auch ein kirchlicher Arbeitnehmer kann daher wegen Wiederverheiratung nicht ohne Weiteres gekündigt werden (EGMR Urteil vom 23. 9. 2010, Az. 1620/03).
Der Weg der deutschen Gerichte – und die Gebrauchsanweisung des EuGH
Sympathisch war mir daher auch die Entscheidung Arbeitsgerichts Berlin (Urteil vom 18.12.2013, Az. 54 Ca 6322/13). Gesucht wurde von einer kirchlichen Einrichtung ein Referent, der einen (notabene) unabhängigen Bericht zur Umsetzung der Anti-Rassismuskonvention erstellen sollte. Das Heranziehen der (möglichen) Konfessionslosigkeit als Entscheidungskriterium für die Einstellung (der Kandidat hatte diese in der Bewerbung lediglich nicht angegeben, obwohl dies "expressis verbis" angefordert war) hatte das Arbeitsgericht als Diskriminierungsgrund angesehen – und eine Entschädigung zugesprochen. Nach einer entgegenstehenden zweitinstanzlichen Entscheidung hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) die Frage immerhin dem EuGH vorgelegt (Beschluss vom 17.3.2016, Az. 8 AZR 501/14 (A)).
Kirchenarbeitsrecht vor dem EuGH: Erneute Heirat als Kündigungsgrund
Aber auch sonst tut sich was, ganz aktuell sogar, das ließen in einem Verfahren vor dem EuGH bereits die Schlussanträge des Generalanwalts (31.5.2018 - Rs. C-68/17 "IR JQ") erahnen. Im Fall selbst geht es darum, ob ein Chefarzt bei Wiederheirat gekündigt werden kann. Das Verbot der Diskriminierung wegen der Religion steht nach Auffassung des Generalanwalts der Kündigung eines Chefarztes eines katholischen Krankenhauses entgegen. Die Anforderung, dass ein Chefarzt den heiligen und unauflöslichen Charakter der Ehe nach dem Verständnis der katholischen Kirche beachtet, stelle keine echte berufliche Anforderung dar, sei also keine wesentliche berufliche Anforderung.
Denn, und dem kann man zustimmen: Für Patienten zählen Qualifikation und medizinische Fähigkeit. Daher machte der Generalanwalt deutlich: Die Scheidung und standesamtliche Wiederheirat stelle keine wahrscheinliche oder erhebliche Gefahr einer Beeinträchtigung des Ethos des Krankenhauses oder ihres Rechts auf Autonomie dar.
EuGH mit Gebrauchsanweisung an das BAG: Grundrechte der EU gewährleisten
Und der EuGH? Der hat am 11. September 2018 – wie so oft – den Antrag des Generalanwalts bestätigt: Bei Anforderungen an das loyale und aufrichtige Verhalten im Sinne des Ethos steht eine Ungleichbehandlung je nach deren Konfession oder Konfessionslosigkeit ausschließlich dann mit der Richtlinie im Einklang, wenn die Religion oder die Weltanschauung im Hinblick auf die konkrete Art der betreffenden beruflichen Tätigkeiten eine berufliche Anforderung ist, die angesichts des Ethos der in Rede stehenden Kirche oder Organisation wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt ist und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht.
Und eine "Gebrauchsanweisung" für das BAG liefert der EuGH gleich mit: Das nationale Gericht ist verpflichtet, wenn es ihm nicht möglich ist, das einschlägige nationale Recht im Einklang mit Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 auszulegen, die volle Wirksamkeit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu gewährleisten, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet lässt.
Deutlicher geht es nicht: Die Konvention steht über der Weimarer Reichsverfassung!
Eine Veränderung gibt es zwischenzeitlich auch beim Streikrecht kirchlicher Einrichtungen: Das wird – wenn auch sehr zurückhaltend und nur sehr bedingt – mittlerweile vom BAG anerkannt (Urteil des 1. Senats vom 20.11.2012, Az. 1 AZR 611/11 und 1 AZR 179/11). Der 1. Senat scheint hier auch etwas fortschrittlicher zu sein als der 8. Senat.
Vom Recht, von der Notwendigkeit und von der (höheren?) Erkenntnis
Aber unabhängig davon, wie sich die arbeitsrechtliche Entwicklung darstellen wird: Die Kirchen und kirchennahen Institutionen müssen umdenken. Im "War for Talents" werden sie sonst schon mittel- und erst recht langfristig das Nachsehen haben. Gerade in den Bereichen Krankenhaus, Kindergarten, Pflege – den Domänen dieser Einrichtungen, wo einerseits Mangel an Arbeitskräften und andererseits (tariflich und arbeitsrechtlich) geregelte Märkte vorliegen – wird es für jedwede Institution schwer werden, die auf rechtliche Sonderwege beharrt und mehr in die persönlichen Rechte eingreift, als dies in unserer modernen Gesellschaften gewohnt (und akzeptiert) ist.
Enden wir mit einem Blick in die Bibel, in Sprüche 16, 16: "Nimm an die Weisheit, denn sie ist besser als Gold; und Verstand haben ist edler als Silber." Vielleicht heißt das, dass auch die Kirchen und ihre Einrichtungen sich anpassen sollten, um auch künftig gute und motivierte – und damit intrinsisch loyale – Mitarbeiter zu gewinnen und zu halten? Und vielleicht sollte das besser freiwillig erfolgen, als auf einem – eventuell gar nicht mehr so langen – Pfad der Rechtsprechung?
Alexander R. Zumkeller, Präsident des
Bundesverbands der Arbeitsrechtler in Unternehmen (BVAU), blickt in seiner Kolumne aus der Unternehmenspraxis auf arbeitsrechtliche Themen und Trends.