Trend des BAG: Leiharbeitnehmer bei Schwellenwerten mitzählen
Haufe Online-Redaktion: Nach einem neuen Beschluss des BAG zählen Zeitarbeitnehmer bei der Berechnung des Schwellenwerts, der über das einschlägige Verfahren zur Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat bestimmt, mit. Wie begründen die Richter diese Entscheidung?
Alexander Bissels: Bislang liegt nur die Pressemitteilung des BAG vor. In dieser heißt es, dass das Mitbestimmungsgesetz den Begriff "Arbeitnehmer" nicht selbst definiere, sondern in § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 MitbestG auf den betriebsverfassungsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff des § 5 Abs. 1 BetrVG verweise. Unter Fortführung der neueren Rechtsprechung des siebten Senats, nach der die Berücksichtigung von Zeitarbeitnehmern als Mitarbeiter des Einsatzbetriebs insbesondere von einer normzweckorientierten Auslegung des jeweiligen gesetzlichen Schwellenwertes abhänge, seien hinsichtlich der Voraussetzungen des § 9 Abs. 1, 2 MitbestG jedenfalls wahlberechtigte Zeitarbeitnehmer auf Stammarbeitsplätzen mitzuzählen. Die vollständigen Gründe müssen noch abgewartet werden, fest steht aber, dass das BAG den Abschied von der sogenannten Zwei-Komponenten-Lehre weiter zementiert, die in ihrer reinen Form noch den Grundsatz "Zeitarbeitnehmer wählen, zählen aber nicht" geprägt hat.
"Sollten Zeitarbeitnehmer zukünftig mitzuzählen sein, kann dies zur Folge haben, dass in einem Unternehmen ein mit Arbeitnehmervertretern drittel- oder gar paritätisch besetzter Aufsichtsrat zu bilden ist, obwohl diese weniger als 500 bzw. 2.000 eigene Mitarbeiter beschäftigen. Dies hat für die Organisation und Steuerung einer Gesellschaft natürlich tiefgreifende Auswirkungen."
Dr. Alexander Bissels
Haufe Online-Redaktion: Im zu entscheidenden Fall war die Beschäftigtenzahl entscheidend für die Frage, ob die Aufsichtsratswahl unmittelbar durch die Arbeitnehmer oder als Delegiertenwahl durchzuführen. Was bedeutet der vorliegende Beschluss für die Praxis?
Bissels: Letztlich ist die Zahl der vom Anwendungsbereich des Mitbestimmungsgesetzes erfassten Unternehmen, für die diese Entscheidung konkrete Auswirkungen haben dürfte, begrenzt. Betroffen sind lediglich solche, die an der Schwelle von 8.000 Arbeitnehmern "kratzen" und nur unter Berücksichtigung der Zeitarbeitnehmer diesen Wert überschreiten. Wichtiger ist aber die mögliche Signalwirkung der Entscheidung für andere Schwellenwerte, wie den Schwellenwert von 2.000 Arbeitnehmern nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 MitbestG oder dem Schwellenwert von 500 Arbeitnehmer nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 DrittelBG, dem Gesetz über die Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat. Sollten Zeitarbeitnehmer zukünftig mitzuzählen sein, kann dies zur Folge haben, dass in einem Unternehmen ein mit Arbeitnehmervertretern drittel- oder gar paritätisch besetzter Aufsichtsrat zu bilden ist, obwohl diese weniger als 500 beziehungsweise 2.000 eigene Mitarbeiter beschäftigen. Dies hat für die Organisation und Steuerung einer Gesellschaft natürlich tiefgreifende Auswirkungen.
Haufe Online-Redaktion: Schon 2013 hatte das BAG entschieden, dass Zeitarbeitnehmer bei betriebsverfassungsrechtlichen Schwellenwerten, wie etwa bei der Ermittlung der Zahl der Mitarbeiter für die Betriebsratsgröße nach § 9 BetrVG oder für die Zahl der Beschäftigten nach § 111 BetrVG, mitzuzählen sind. Gibt es weitere Beispiele dieser Art?
Bissels: Zuletzt haben die Instanzgerichte auf Grundlage der Rechtsprechung des BAG Zeitarbeitnehmer auch bei der Festlegung der Anzahl der freizustellenden Betriebsratsmitgliedern gemäß § 38 BetrVG mitgezählt. Eine höchstrichterliche Bestätigung steht allerdings noch aus. Das BAG hat zuletzt 2013 entschieden, dass Zeitarbeitnehmer auch zu berücksichtigen sind, um festzustellen, ob der Anwendungsbereich des KSchG eröffnet ist. Auch hier hat Erfurt entschieden, dass im Kundenbetrieb tätige Zeitarbeitnehmer mitzuzählen sind, wenn ihr Einsatz auf einem in der Regel vorhandenen Personalbedarf beruht.
Haufe Online-Redaktion: Der aktuelle Beschluss des BAG geht in die gleiche Richtung – sehen Sie hier einen Trend?
Bissels: Die Entscheidung bestätigt zumindest einen Trend in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung, Zeitarbeitnehmer bei der Bestimmung von Schwellenwerten grundsätzlich mitzuzählen. Interessanterweise ist die Zivilgerichtsbarkeit in diesem Zusammenhang strenger. Das OLG Hamburg hat – auch in Kenntnis der großzügigeren Rechtsprechung des BAG – jüngst entschieden, dass Zeitarbeitnehmer bei dem Schwellenwert zur Anwendung des MitbestG gerade nicht zu berücksichtigt werden können.
Haufe Online-Redaktion: Lässt sich aus dem aktuellen Beschluss ableiten, dass das BAG grundsätzlich Zeitarbeitnehmer bei der Berechnung Schwellenwerten der Unternehmensmitbestimmung einbeziehen möchte?
Bissels: Nein. Das BAG hat in der jüngeren Vergangenheit zwar allgemein großzügiger hinsichtlich der Berücksichtigung von Zeitarbeitnehmern bei der Bestimmung von Schwellenwerten, insbesondere im BetrVG, entschieden. In der aktuell vorliegenden Pressemitteilung hat der siebte Senat aber ausdrücklich festgestellt, dass nicht darüber zu befinden war, ob Zeitarbeitnehmer auch bei anderen Schwellenwerten der Unternehmensmitbestimmung in die Berechnung einbezogen werden müssen. Insoweit ist mit dem Beschluss kein Präjudiz dafür zu entnehmen, dass Zeitarbeitnehmer bei sämtlichen Schwellenwerten bei der Unternehmensmitbestimmung zukünftig uneingeschränkt zu berücksichtigen sind; dies ist jeweils im Einzelfall unter Berücksichtigung der konkreten, streitgegenständlichen Norm zu entscheiden. Dennoch stellt der aktuelle Beschluss einen weiteren Mosaikstein dar, der – zumindest im Gesamtkontext betrachtet – als Indiz zu qualifizieren ist, Zeitarbeitnehmern bei Schwellenwerten eine "zählbare" Bedeutung zuzumessen.
"Denkbar ist allerdings, dass auf Grundlage der Entscheidung des BAG die Bildung eines mit Arbeitnehmervertretern besetzten Aufsichtsrats verlangt beziehungsweise die richtige Besetzung des Aufsichtsrates geprüft wird, wenn und soweit die Beschäftigtenzahl eines Unternehmens in Einzelfällen in der Nähe der relevanten Schwellenwerte liegt."
Dr. Alexander Bissels
Haufe Online-Redaktion: Der neue Beschluss bringt Unsicherheit in die Betriebe – werden die Gewerkschaften oder Betriebsräte nun Statusverfahren anstreben?
Bissels: Im Ergebnis ist nicht auszuschließen, dass an der einen oder anderen Stelle Verfahren angestoßen werden, um überprüfen zu lassen, ob die Schwellenwerte des MitbestG oder des DrittelbG mit oder ohne Zeitarbeitnehmer zu berechnen sind. Zu einer regelrechten Klagewelle dürfte es trotz des Rückenwinds aus Erfurt aber nicht kommen. Denkbar ist allerdings, dass auf Grundlage der Entscheidung des BAG die Bildung eines mit Arbeitnehmervertretern besetzten Aufsichtsrats verlangt beziehungsweise die richtige Besetzung des Aufsichtsrats geprüft wird, wenn und soweit die Beschäftigtenzahl eines Unternehmens in Einzelfällen in der Nähe der relevanten Schwellenwerte liegt.
Haufe Online-Redaktion: Was raten Sie den Arbeitgebern in solchen Fällen?
Bissels: Gerade diesen Unternehmen ist zu empfehlen, spätestens jetzt ein Problembewusstsein zu entwickeln und gewappnet zu sein, falls diese mit dem Begehren konfrontiert werden, einen mit Arbeitnehmervertretern besetzten Aufsichtsrat erstmals zu bilden oder vom DrittelbG zum MitbestG hochzustufen. Denkbar sind dabei Szenarien, die darauf hinauslaufen, einen Aufsichtsrat nach dem DrittelbG oder dem MitbestG in Gänze zu vermeiden, zum Beispiel unter Einbeziehung ausländischer Gesellschaften, die nicht vom Anwendungsbereich der deutschen Mitbestimmung erfasst sind.
Dr. Alexander Bissels ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei CMS Hasche Sigle, Köln.
Das Interview führte Katharina Schmitt, Redaktion Personal.
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