Ein kürzlich erschienener Aufsatz in der Neuen Zeitschrift für Arbeitsrecht (NZA) von Regine Winter macht mich mindestens nervös. Frau Winter ist Richterin am BAG. Und sie schreibt über die Entgelttransparenz-Richtlinie. Vielleicht legt ihr Richteramt noch keine vorweggenommene Auslegung des BAG nahe, aber sicher ist ihre Meinung nicht ohne Bedeutung. Sie formuliert: "Der Richtlinienwortlaut ist eindeutig." Und: „Für die Zwecke dieser Richtlinie (umfasst) der Ausdruck 'Entgelt' die üblichen Grund- oder Mindestlöhne und -gehälter sowie alle sonstigen Vergütungen, die ein Arbeitgeber aufgrund des Dienstverhältnisses einem Arbeitnehmer unmittelbar oder mittelbar (ergänzende oder variable Bestandteile) als Geld- oder Sachleistung zahlt." (NZA 2024, Seite 449). Das macht mir Angst.
Transparenz ist richtig und wichtig
Meine Angst rührt nicht daher, transparent sein zu müssen. Transparenz ist letztlich richtig und fair. Beschäftigte sollen wissen, was sie verdienen (können). Ich halte es für unbillig, die Vergütung vom Verhandlungsgeschick abhängig zu machen. Soweit Tarifverträge gelten, ist das auf Grund klarer Eingruppierungssystematiken an sich ohnedies ausgeschlossen. Wenn nicht, ja wenn nicht "pfiffige" Personaler dann einfach die Anforderungen ändern; oder wenn nicht, ja wenn nicht in der gleichen Branche bestimmte Unternehmen grundsätzlich eine Entgeltgruppe höher eingruppierten als es der Tarifvertrag vorsieht.
Von der Unmachbarkeit des Unmachbaren
Und dennoch macht mir die Aussage Angst: alle ergänzenden Bestandteile? Sachleistungen? Vor allem letztere machen mich wirklich nervös. Nehmen wir das (subventionierte) Essen im Betriebsrestaurant. Reicht es aus, zu dokumentieren "subventioniertes Kantinenessen"? Oder muss angegeben werden, welchen Zuschuss der Arbeitgeber zahlt? Oder der Dienstwagen – je nach Dienstwagenregelung recht schwierig, angenommen es gibt einen Leasingzuschuss zu einem sehr stark rabattierten Fahrzeug – muss der Zuschuss selbst oder auch der Rabatt dokumentiert werden?
Macht man sich die Mühe, die Richtlinie (RL (EU) 2023/970) selbst zu lesen, wird es nicht besser. Da stolpert der betriebliche Praktiker von einer Stolperfalle in die andere:
"Arbeitgeber stellen ihren Arbeitnehmern Informationen darüber, welche Kriterien für die Festlegung ihres Entgelts, ihrer Entgelthöhen und ihrer Entgeltentwicklung verwendet werden, in leicht zugänglicher Weise zur Verfügung." Damit wird man als tarifgebundener Arbeitgeber leben können – der Tarifvertrag kommt ins firmeneigene Intranet. Punkt. Was ist mit außertariflichen Beschäftigten? Nun, wer einen Betriebsrat hat, ist fein raus – man nimmt die Betriebsvereinbarung zur Vergütung außertariflicher Beschäftigter und stellt auch die ins Intranet. Ohne Betriebsrat oder ohne Betriebsvereinbarung wird es pikant. Für Sozialleistungen (wie den oben genannten Kantinenpreis und den Dienstwagen), sollte es ausreichen, wenn eine Betriebsvereinbarung oder eine Policy im Intranet veröffentlicht wird. So weit, so gut.
"Arbeitnehmer haben das Recht, gemäß den Absätzen 2 und 4 Auskünfte über ihre individuelle Entgelthöhe und über die durchschnittlichen Entgelthöhen zu verlangen und in schriftlicher Form zu erhalten, aufgeschlüsselt nach Geschlecht und für die Gruppen von Arbeitnehmern, die gleiche Arbeit wie sie oder gleichwertige Arbeit verrichten." Nun könnte man denken "wo ist das Problem?", denn jeder bekommt doch einen Entgeltnachweis (das dürfte schon über das unsägliche Nachweisgesetz abgefrühstückt sein). Nun ja: wenn der Entgeltbegriff ein umfassender ist und auch Sachleistungen beinhaltet – wie bitte ist dann die durchschnittliche Höhe des Entgelts für bestimmte Sachleistungen zu ermitteln? Nehmen wir wieder den Kantinenpreis: Wäre hier der abstrakt mögliche Arbeitgeberzuschuss zu nennen? Oder etwa der tatsächlich in Anspruch genommene Kantinenzuschuss? Meinem Bias folgend: Frauen gehen statistisch gesehen seltener in die Kantine als Männer, also wäre deren Vergütung im Durchschnitt geringer? In der Richtlinie lesen wir hier vom Durchschnitt – was aber passiert mit unserem Entgelttransparentgesetz, das den Median zum Maßstab hat? Müssen wir künftig neben dem Median auch den Durchschnitt bereithalten?
Der Gesetzgeber traut sich selbst zuletzt
Wer denkt, dass die Unsäglichkeit eines Nachweisgesetzes nicht überbietbar wäre, was Förmelei angeht, irrt. Denn in der Richtlinie finden wir "Arbeitgeber informieren alle Arbeitnehmer jährlich über ihr Recht, die Auskünfte nach Absatz 1 zu erhalten, und über die Schritte, die der Arbeitnehmer unternehmen muss, um dieses Recht wahrzunehmen". Also zum Verstehen: Gemäß Nachweisgesetz müssen Arbeitgeber ihre Beschäftigten darüber belehren, was die "Grundzüge der Kündigung" sind. Nach der Richtlinie (und dem künftig folgenden Umsetzungsgesetz) dann auch jährlich über den Informationsanspruch aus einem Gesetz.
Ich möchte nicht mal vom Umsetzungsaufwand sprechen (der, bei der "Genauigkeit" des deutschen Umsetzungs-Gesetzgebers, sicher wieder nicht gering ausfallen wird) sondern von der inhärenten Narretei: Der Gesetzgeber, hier der deutsche, dort der europäische, traut seinen eigenen Gesetzen nicht mehr. Einerseits hat jeder die Verpflichtung, eine Steuererklärung zu machen, ohne dass das jemals in der Schule oder an der Uni oder in der Ausbildung Pflichtstoff gewesen wäre und ohne dass die Behörde rechtzeitig vor Fristablauf dazu auffordern muss. Und andererseits wird der Arbeitgeber gezwungen, als umfassender Büttel des Staates Gesetze an den Mann oder die Frau zu bringen. Warum müssen die Straßenbehörden uns nicht jedes Jahr anschreiben, um uns über neu erlassene Straßenverkehrsregeln zu informieren?
Und immer wieder grüßt das Murmeltier
Nicht fehlen darf auch wieder der Vollaufreger "Kleinbetriebsklausel", die auch der europäische Normgeber sexy zu finden scheint: "Die Mitgliedstaaten können Arbeitgeber mit weniger als 50 Arbeitnehmern von der Verpflichtung im Zusammenhang mit der Entgeltentwicklung gemäß Absatz 1 ausnehmen." Warum denn nur? Kleinbetriebe könnten am einfachsten ihren Pflichten nachkommen. Die ehrliche Antwort wäre womöglich frappierend: "Wir machen das nach Lust und Laune und Verhandlungsgeschick der Beschäftigten." Warum darf ein Kleinunternehmen das, aber größere Arbeitgeber nicht? Dafür gibt es keinen guten Grund.
Vieles, von dem Kleinunternehmer ausgenommen sind, würde diesen viel leichter fallen als einem großen Arbeitgeber. Es steckt erst mal viel, viel Aufwand – und damit Kosten – dahinter. Ich kann sie nicht mehr hören, die Mär von "Großbetriebe haben mehr Ressourcen". Hat irgendjemand der Verfechter dieses Statements auch nur einmal einen größeren Betrieb gesehen? Was der Boss eines Kleinunternehmens aus dem Effeff weiß, braucht bei Großunternehmen eine riesige Administration…
Gutes Ende?
Das ist noch nicht alles, aber an dieser Stelle soll es damit sein Bewenden haben. Leider, ich muss das so sagen, leider werde ich erst ein paar Monate nach Ende der Richtlinien-Umsetzungsfrist, die am 7. Juni 2026 abläuft, in Rente gehen. Was neben der kruden Frage, weshalb ausgerechnet der 7. Juni statt dem 30. Juni, die Frage aufwirft, wann und wie der deutsche Gesetzgeber die Umsetzung vornehmen wird. Bitte: Minimalinvasiv. Und bitte: In Alignement mit dem Entgelttransparenzgesetz und dem Nachweisgesetz.
Unser Kolumnist Alexander R. Zumkeller, Präsident des Bundesverbands der Arbeitsrechtler in Unternehmen (BVAU), sowie Vorstand und Arbeitsdirektor bei ABB, blickt in seiner Kolumne aus der Unternehmenspraxis auf arbeitsrechtliche Themen und Trends.