Wie gehen Sie vor, wenn Sie sich ein neues Auto anschaffen? Wahrscheinlich überlegen Sie im Vorfeld, welche Eigenschaften der treue Begleiter unbedingt haben muss. Er hat eine bestimmte Leistung zu erbringen, darf aber im Unterhalt nicht zu teuer sein.
Vielleicht benötigen Sie einen großen Kofferraum oder legen viel Wert auf passive Sicherheit. Darüber hinaus gibt es Merkmale, die nicht unbedingt notwendig sind, über die man sich aber freuen würde, sofern der Preis denn stimmt: ein lederbezogenes Cockpit, ein beheiztes Lenkrad oder Türen, die wie durch Geisterhand mit einem leisen "ffffffp" schließen. Sicherlich spielt am Ende auch ein wenig das Gefühl eine Rolle, wenn Sie sich für ein konkretes Fahrzeug entscheiden. Im Prinzip nutzen Sie aber die Vorzüge Ihres Neocortex – gut gemacht!
Personalauswahl ganz nach Gusto?
Würden Sie Ihr nächstes Automobil so kaufen, wie viele Unternehmen in Deutschland das Personal auswählen, sähe das Vorgehen völlig anders aus: Sie würden einfach ins nächste Autohaus tapern und die vielen bunten Fahrzeuge auf sich wirken lassen. Sie hätten keine klare Vorstellung davon, was Sie genau suchen, wären sich aber sicher, das Passende schon von allein zu erkennen, wenn es Ihnen unter die Augen käme.
Beliebige Anforderungsprofile und zufällige Auswahlkriterien
Eine aktuelle Studie, bei der mehr als 240 Unternehmen unter anderem nach ihren Kriterien bei der Sichtung von Bewerbungsunterlagen befragt wurden, zeichnet ein wenig schmeichelhaftes Bild:
- Fast die Hälfte der Unternehmen (47 Prozent) haben keinerlei verbindliche Anforderungen für die zu besetzende Stelle festgelegt. Sie gehen im Blindflug durch die Unterlagen und hoffen, auf wundersame Weise die Eignung eines Kandidaten aufspüren zu können.
- Sofern Kriterien festgelegt werden, geschieht dies fast immer durch eine einzige Person, von der man offenbar erwartet, dass sie den großen Durchblick habe. In lediglich 17 Prozent der Fälle werden zwei oder mehr Menschen zu Rate gezogen.
In einer Studie zur Praxis des Einstellungsinterviews mit 214 befragten Unternehmen ergaben sich ähnliche Ergebnisse:
- Weniger als ein Drittel der Unternehmen (29 Prozent) hat ein explizites Anforderungsprofil, aus dem hervorgeht, welche Kompetenzen im Interview erfasst werden sollen und wie stark sie ausgeprägt sein müssen, damit ein Bewerber als hinreichend geeignet gelten kann.
- In gerade einmal 13 Prozent der Unternehmen sichert man sich bei der Definition der Anforderungen gegen die Subjektivität der Vorgesetzten ab und holt die Meinung mehrerer Menschen ein, die den Arbeitsplatz gut kennen.
Critical Incident Technique: Bei der Anforderungsanalyse zielgerichtet vorgehen
Die Festlegung der Kriterien, nach denen die Bewerber auf ihre Eignung für eine Stelle untersucht werden, wird in der Forschung als Anforderungsanalyse bezeichnet. Sie bildet die Grundlage für ein zielgerichtetes Vorgehen. Eine ökonomische Variante, die gleichzeitig sehr differenzierte Erkenntnisse liefert, ist die sogenannte "Critical Incident Technique" (CIT). Sie läuft in drei Phasen ab:
- Auswahl von mehreren Experten, die den Arbeitsplatz aus verschiedenen Perspektiven beschreiben können. Bei Führungspositionen könnte man beispielsweise den derzeitigen Stelleninhaber, dessen Führungskraft, einen Mitarbeiter und einen Kollegen auswählen.
- Durchführungen von Einzelinterviews, in denen die Experten zum einen konkrete Situationen aus dem Berufsalltag der zu besetzenden Stelle schildern ("Mit welchen wichtigen Aufgaben und Situationen wird der zukünftige Stelleninhaber konfrontiert?"). Zum anderen liefern sie Beispiele für gutes und schlechtes Arbeitsverhalten ("Wie sollte sich der Stelleninhaber in dieser Situation verhalten und welches Verhalten ist nicht sinnvoll?")
- Auswertung der Interviews, indem die Verhaltensweisen aller Gespräche nach inhaltlichen Gesichtspunkten gruppiert werden. Die so entstandenen Cluster entsprechen den Anforderungsdimensionen für die vakante Stelle.
Klare Anforderungen für konkrete Positionen
Die CIT folgt dem Bottom-Up-Prinzip. Ausgehend von konkreten Verhaltensweisen, die für den fraglichen Arbeitsplatz relevant sind, wird auf die dem Verhalten zugrundeliegenden Kompetenzen beschlossen. Das Ergebnis ist maßgeschneidert für die Stelle und vermeidet die üblichen Worthülsen, unter denen viele Auswahlverfahren leiden. Wer ohne differenzierte Anforderungsanalyse zu dem Schluss kommt, dass Führungskräfte über Führungskompetenzen verfügen müssen – wer hätte das gedacht – und Servicemitarbeiter sozial kompetent sein sollten – wir senken unser Haupt vor der Weisheit der Experten –, hat nur Scheinaussagen produziert. Hilfreich ist die Anforderungsanalyse nur dann, wenn wir erfahren was gute Führung auf gerade dieser Stelle bedeutet und welche der vielen sozialen Kompetenzen, die sich bei genauer Betrachtung differenzieren lassen, im vorliegenden Fall eigentlich gemeint sind.
Wissen, wen man finden will
Deutsche Unternehmen verhalten sich bei der Stellenbesetzung nicht so als würden Sie ein Auto kaufen, sondern eher so, als würden sie in der Mittagspause einen Nachtisch auswählen. Sie verkennen die grundlegende Bedeutung differenzierter Anforderungsanalysen. Eine ältere Metastudie zeigt, dass die Aussagekraft von Einstellungsinterviews allein durch einen klaren Anforderungsbezug des Verfahrens verdoppelt werden kann. Dies verwundet nicht, denn wer nicht genau weiß, wen er sucht, kann auch nur per Zufall finden, was er braucht.
Prof. Dr. phil. habil. Uwe P. Kanning ist seit 2009 Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück. Seine Schwerpunkte in Forschung und Praxis: Personaldiagnostik, Evaluation, Soziale Kompetenzen und Personalentwicklung.
Schauen Sie auch einmal in den
Youtube-Kanal "15 Minuten Wirtschaftspsychologie" rein. Dort erläutert Uwe P. Kanning zum Beispiel zusammenfassend,
warum Manager scheitern oder
warum die Aussagekraft von graphologischen Gutachten ein Mythos ist.
vielen Dank für Ihren Kommentar.
Herr Prof. Kanning entgegnet darauf Folgendes:
"Das Ziel der Anforderungsanalyse ist in den allermeisten Fällen nicht ein Idealprofil, sondern die Definition der Mindestanforderungen. Ein solches Mindestanforderungsprofil ist auch dann wichtig, wenn es wenige qualifizierte Bewerber gibt, denn hieraus leiten sich letztlich die Inhalte des Auswahlverfahrens ab: Welche Kompetenzen müssen überhaupt untersucht werden? Was verstehen wir genau unter "Kundenorientierung" etc.? Welche Fragen im Einstellungsinterview sind zielführend? Solang auch nur ein einziger Bewerber existiert, über dessen Einstellung entschieden werden muss, legen Anforderungsanalysen die Grundlage für das Auswahlverfahren. Dies gilt selbst dann, wenn der Bewerber die Anforderungen nicht erfüllt und dennoch eingestellt wird, weil es keine Alternativen gibt. In diesem Fall leitet sich aus der Diskrepanz zwischen Anforderungsprofil und dem Leistungsprofil des Kandidaten der individuelle Weiterbildungsbedarf ab. Anforderungsprofile werden nicht einmal dann obsolet, wenn überhaupt keine Bewerber mehr vorhanden sind. In diesem Fall müsste man ja in sein Personalmarketing intensivieren und das geht nur zielgerichtet vor dem Hintergrund eines Anforderungsprofils. Aus der Forschung ist bekannt, dass potenzielle Bewerber beispielsweise sehr differenzierte Beschreibungen der Anforderungen wertschätzen. Statt der trivialen Erkenntnis, dass eine Führungskraft "Führungskompetenz" mitbringen muss, ist es mithin schon aus Gründen des Personalmarketings wichtig, klar zu machen, was Führung auf der ausgeschriebenen Position genau bedeutet. Ohne Anforderungsanalyse ist auch das nicht möglich und man arbeitet mit den üblichen Worthülsen. Wer als Arbeitgeber keine differenzierten Anforderungsanalysen durchführt, schadet sich selbst - und zwar in jeder Hinsicht."
Mit besten Grüßen
Benjamin Jeub, Redaktion Personal
Schon der Auto-Vergleich geht an den heutigen Problem im Recruiting vorbei: Es gibt eben keine "vielen bunten" Kandidaten, die man selektieren könnte. In Zeiten des Fachkräftemangels bleiben qualifizierte Bewerber immer häufiger aus, in der Mittagspause würde es demnach für Unternehmen eher heißen: "Heute kein Nachtisch" - nichts zur Auswahl.