Gesundheitsminister Spahn rechnete es kürzlich wieder vor: 23 Millionen Deutsche sind über 60 Jahre. Beim Statistischen Bundesamt liest sich das noch dramatischer: "Jede zweite Person in Deutschland ist heute älter als 45 und jede fünfte Person älter als 66 Jahre." Doch es ist ruhig geworden um den Megatrend, der vor Jahren noch in aller Munde war. "Der demografische Wandel ist nicht weg, er wirkt weiter", wendet Gerhard Wiesler, Partner von Kienbaum Consultants International, ein. Als Vorstand und Mitgründer des Vereins Demografie Exzellenz beobachtet er allerdings eine inhaltliche Verschiebung.
Diversity und Digitalisierung bestimmen die Veränderungsprozesse
"Bei Demografie geht es schon lange nicht mehr nur ums Alter. Unter den vier "D"s Demografie, Digitalisierung, Diversity und Demokratie bestimmen gerade vor allem Digitalisierung und Diversity die Veränderungsprozesse." Die Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitnehmer über den gesamten Erwerbsverlauf zu fördern und zu erhalten, bleibe eine Herausforderung. Gleichzeitig gelte es, Chancengerechtigkeit für alle Beschäftigten zu etablieren – unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft oder Lebensentwurf. "Deshalb haben wir in diesem Jahr Diversity zum Schwerpunktthema unserer digitalen Fachveranstaltung gemacht, die coronabedingt ohne Preisverleihung zum Demografie Exzellenz Award stattfindet", so Wiesler (mehr zur digitalen Fachveranstaltung am 25. November 2020 erfahren Sie hier). Dabei dürften kurzfristige Initiativen zur Krisenbewältigung nicht den Blick auf langfristige Entwicklungen verstellen. Zwar bröckelten nun trotz Kurzarbeit die Rekordbeschäftigungszahlen, doch Unternehmen müssten weiterhin den Fachkräftenachschub sichern.
Projekt Quali Plus Wertzeit: Attraktiver Aus- und Umstieg für Ältere
"Die Corona-Krise wirkt als Brandbeschleuniger in Sachen Strukturwandel", weiß Martin Gosch, Geschäftsführender Gesellschafter von Quali Plus. Da bei Personalabbau vor allem junge Menschen, die weniger Sozialpunkte aufbringen als ältere, mit einer Kündigung rechnen müssen, hat er schon 2016 über Möglichkeiten nachgedacht, den freiwilligen Aus- und Umstieg für ältere Beschäftigte attraktiver zu machen. Das Projekt "Quali Plus Wertzeit", das 2017 den Demografie Exzellenz Award erhielt, bietet ein neues Arbeitsverhältnis in einer Transfergesellschaft. Das Besondere dabei: Die Ausstiegswilligen bleiben über eine ausgeklügelte Umfinanzierungskonstruktion weiterhin sozialversicherungspflichtig beschäftigt. "Wenn jemand eine ordentliche Abfindung bekommt, landen häufig 40 bis 50 Prozent beim Finanzamt. Bei 'Wertzeit' kommt das Geld steuerlich optimiert und als Einzahlung in die Renten- und Krankenversicherung beim Arbeitnehmer an. Sollte jemand keinen neuen Job finden, bleiben meist trotzdem mindestens 80 Prozent des bisherigen Nettoverdiensts – bis zum rettenden Anker Rente", rechnet der Projektverantwortliche vor.
Es sei zwar sozialverträglich, wenn ältere Beschäftigte blieben. In der Automobilindustrie brauche man aber deren Qualifikation oft nicht mehr – statt Dieselexpertise seien nun beispielsweise Kenntnisse im Bereich Elektroantrieb gefragt. Und nicht nur krisengebeutelte Betriebe, sondern auch andere Unternehmen bauten aufgrund dynamischer Marktentwicklungen Personal ab, während sie gleichzeitig neue Geschäftsfelder hochzögen. "Für den Veränderungsprozess braucht es jüngere Menschen, die schon Kompetenzen in den Zukunftsfeldern mitbringen." Außerdem gebe es für Ältere, wenn sie auf ihre Sozialpunkte pochen, häufig keine Arbeit mehr im alten Job. Altersteilzeit sei dann keine Alternative. Im Projekt "Quali Plus Wertzeit" bleibe zumindest die Chance für eine Weiterbeschäftigung.
Konzept von Quali Plus auch auf jüngere Mitarbeiter übertragbar?
Dank eines vorab erstellen Finanzierungsplans können Unternehmen und Angestellte genau ausrechnen, was auf sie zukommt. Wer in einem Wissensjob arbeite oder noch schulpflichtige Kinder habe, wolle sich meist noch nicht aus der Arbeitswelt verabschieden. Gosch hat jedoch die Erfahrung gemacht, dass für viele die Aussicht verlockend sei, mit einem minimalen Gehaltsverzicht einfach gar nicht mehr zu arbeiten. Die Transfergesellschaft ermögliche zwar weiterführende Qualifizierungen. "Viele Mitarbeiter wollen in den letzten Jahren ihrer Erwerbstätigkeit aber lieber eine ruhige Kugel schieben."
Zwar könne sich die Strategie, die älteren Mitarbeiter früher als üblich aus der aktiven Arbeitswelt zu verabschieden, irgendwann beim nächsten wirtschaftlichen Aufschwung rächen. Doch viele Unternehmen hätten gerade ein akutes Problem. Mit einem 58-Jährigen mache in Krisenzeiten niemand eine Personalplanung für die nächsten fünf Jahre. "Viele Unternehmen, etwa in der Automobilzulieferindustrie oder im Maschinenbau, haben eine überalterte Belegschaft, weil sie lange nicht in den Nachwuchs investiert haben", wendet Gosch zudem ein. So erklärt er sich, dass sein Projekt aktuell "richtig fliegt". Quali Plus arbeitet aber auch daran, das Konzept für jüngere Menschen zu übertragen: in Form einer Bildungsauszeit. Eine Abfindung ließe sich mit steuerlichen Vorteilen auch dafür nutzen, noch einmal die Schulbank zu drücken oder zu studieren.
Projekt F4DIA: Weiterbildung für die digitalisierte Arbeitswelt
Damit es gar nicht dazu kommt, dass Beschäftigte aufgrund von Umstrukturierungen ihren Job verlieren, bleibt der Kompetenzaufbau für die Digitalisierung ein Schwerpunkt im Demografie-Management. Gerd Duffke, der seit 48 Jahren bei Trumpf beschäftigt ist und dort seit zehn Jahren Weiterbildungsprogramme entwickelt, kann davon ein Lied singen. "Unsere Kunden haben im Zuge der Entwicklung zur Smart Factory viele neue Anforderungen, wie etwa einen Maschinen-Bediener zum Prozessmanager zu machen", berichtet der Personalentwickler. Doch gerade kleinere und mittlere Unternehmen hätten oft keine Personalabteilung, die eine entsprechende Weiterbildung aufgleisen könne. So kam es zum Projekt "F4DIA – Fit für die digitalisierte Arbeitswelt", das vom Wirtschaftsministerium gefördert wird und 2017 beim Demografie Exzellenz Award punktete: Gemeinsam mit dem Garp Bildungszentrum und drei weiteren Partnern lancierte Trumpf eine Weiterbildung zum Multiplikator für die digitalisierte Arbeitswelt mit abschließendem IHK-Zertifikat.
Das erste von fünf Modulen bringt die Teilnehmer in die Staatsgalerie Stuttgart, wo sie sich mit Kunst, Kultur und Literatur beschäftigen. "Wenn die Teilnehmenden sich mit Dingen beschäftigen, die sie nicht kennen und vor denen sie vielleicht etwas Angst haben, kriegen sie ein Gefühl dafür, wie es Beschäftigten im Umgang mit der Digitalisierung geht", erläutert Evelyn Philipp, F4DIA-Projektleiterin von Garp. Einen Aufsatz aus Wörtern mit dem Buchstaben "I" schreiben oder kleine Videoclips erstellen – Künstler führen die künftigen Multiplikatoren in unbekanntes Terrain. Im zweiten Modul vermittelt Garp theoretische Grundlagen für Change-Prozesse – auch in Bezug auf psychologische Aspekte. "Der Mensch und nicht die Maschinen stehen im Vordergrund. Wir möchten alle auf dem Weg in die digitale Transformation abholen und mitnehmen", so Philipp. Didaktisches und lerntheoretisches Hintergrundwissen vermittelt die PH Ludwigsburg im dritten Modul. Nach Modul vier, in dem der Verein zur Förderung der Berufsbildung (VFB) digitale Lernarrangements und verschiedene Plattformen vorstellt, geht es zu Trumpf nach Ditzingen, um vor Ort einen Eindruck zu bekommen, wie Maschinen digitalisiert werden. Wer auch die abschließende Projektarbeit macht, bei der die Teilnehmer die gelernten Methoden anwenden und ihre Lösung präsentieren, bekommt in zehn Weiterbildungstagen im Zeitraum von sechs Monaten das IHK-Zertifikat.
Kursgruppen sind demografisch bunt gemischt
Die Gruppengrößen schwanken zwischen neun und 14 Personen. Da anfangs die Absprungraten hoch waren, erheben die Projektbeteiligten inzwischen eine Schutzgebühr von 500 Euro. "Wir haben gut gewirtschaftet, sodass das Wirtschaftsministerium über den ursprünglich geplanten Projektzeitraum noch einmal zwei Durchgänge der Ausbildung genehmigt hat", erklärt Duffke. Die Gruppen seien in Bezug auf Alter und Geschlecht bunt gemischt, neben einem Auszubildenden nähmen auch mal 60-Jährige teil. "Vor einigen Jahren hat man noch gedacht, die 'Digital Natives' hängen die älteren Beschäftigten mit der Digitalisierung ab. Doch inzwischen sehen wir, dass auch die 40- bis 50-Jährigen voll dabei sind", so Philipp.
Durch die Corona-Pandemie musste das fünfte Modul bei Trumpf online laufen. Der Besuch sei aktuell nicht möglich, aber über virtuelle Lernräume von Tricat Spaces, in denen sich die Teilnehmer als Avatare bewegen, könne man die Maschinenvernetzung zumindest inhaltlich gut rüberbringen, bevor man den Aha-Effekt vor Ort irgendwann nachhole. Für den vierten Durchlauf des Kurses ab 2021 in Freiburg habe man die Inhalte nur leicht umstellen müssen. Trumpf-Urgestein Duffke ist auch aus einem anderen Grund zuversichtlich: "Wir werden 2021 das Projekt abschließen, aber der DIHK hat Interesse, das Konzept weiterzuführen und auf Bundesebene auszurollen."
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