Führung ist recht simpel, wenn angewiesen oder verordnet werden kann. Doch seien wir ehrlich: Wie häufig ist das der Fall? Und wie tragfähig ist es? "Tu, was ich sage. Schließlich bin ich Deine Chefin!" Diese Anweisung mag vorkommen. Sie ist dann aber eher das Eingeständnis, dass freiwillige Kooperation nicht zu erlangen war und dass es immer noch besser ist, das Gegenüber folgt widerwillig und mit Murren als gar nicht.
Wirkungsvoller, nachhaltiger und befriedigender für beide Seiten ist und bleibt, wenn Menschen aus innerer Überzeugung folgen. Dazu müssen sie auch einen Vorteil für sich erkennen, wenn sie tun, was andere von ihnen erwarten. Führen und Folgen ist daher öfter als wir denken ein Aushandlungsprozess und Tauschgeschäft. Dieser Prozess beantwortet die Frage: "Was habe ich davon, wenn ich Deiner Bitte entspreche, Deinen Rat annehme, Deiner Anweisung folge?"
Was aber braucht es, damit diese Aushandlung gelingt und zu guten Ergebnissen in der Sache führt? Denn um die muss es ja immer gehen! Schließlich muss der Jahresabschluss nicht fristgerecht fertig werden, weil es der CEO und die Controllingchefin fordern. Er muss fertig werden, weil Rechnungslegungsvorschriften es so vorsehen, weil Geldgeber Einblick fordern, weil die Strategiearbeit verlässliche Zahlen braucht.
Achtung: Die gemeinsame Sache geht vor!
Damit gilt: Die persönlichen Interessen, die die einen beim Führen, die anderen beim Folgen leiten, können nicht außer Acht gelassen werden. Aber sie müssen immer als das behandelt werden, was sie sind: Versteckte Triebkräfte, die hinter der Absicht stehen, ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Das wäre in diesem Fall, eben den Vorschriften gerecht zu werden und wichtige Prozesse im Unternehmen am Laufen zu halten.
Daraus folgt eine wichtige Verhaltensregel: Wer im Aushandlungsprozess seine eigenen Interessen zu sehr in den Vordergrund stellt, macht sich angreifbar und schwächt seine Ausgangsposition. "Ich kriege Stress, wenn wir den Abschluss bis Freitag nicht fertighaben", ist das denkbar schlechteste Argument für die Chefin, die den Kollegen zur Eile anhält. "Ich hab‘ so viel auf dem Tisch und sehe es echt nicht ein, andauernd Überstunden zu schieben", mag eine legitime Darstellung der Sachlage durch den gestressten Kollegen sein. Dennoch verrät sie, dass es auch ihm nicht um die Sache, sondern um sich selbst geht.
Wie also kann in dieser Situation ein Interessenausgleich im Sinne der Sache erzielt werden? Wer als Führungskraft in dieser Situation gestresste Kollegen zu Überstunden anhält, sollte sich in drei Schritten an die Lösung herantasten.
Von den objektiven Fakten zu den subjektiven Befindlichkeiten
Erst einmal sollte die Führungskraft den Blick aller auf die übergeordnete Sache richten und einen gemeinsamen Nenner herstellen: "Es geht nicht um mich oder Dich, es geht darum, unserer Aufgabe und den Erfordernissen im Unternehmen gerecht zu werden."
Dann ist es geboten, der Aussage auf den Grund zu gehen, der Kollege sei überlastet. Ist dem objektiv so und können wir es ändern? Da Termine für Jahresabschlüsse nicht plötzlich vom Himmel fallen, liegt vielleicht ein Planungsfehler, ein unvorhergesehener Störfall, ein Selbst- oder Zeitmanagementproblem vor? Lässt sich hier Abhilfe schaffen, dürfte die Kooperationsbereitschaft des gestressten Kollegen wiederherzustellen sein.
Anreize und Interessen in den Blick nehmen
Zu guter Letzt kann die Chefin nach persönlichen Motiven und Anreizen suchen, die die Kooperationsbereitschaft des Kollegen erhöhen. Die beiden Organisationspsychologinnen Julie Battilana (Harvard Business School) und Tiziana Casciaro (Rotman School of Management) haben in ihrem lesenswerten Buch "Power, for all" bestehende Forschung darauf heruntergebrochen, dass Menschen im Grunde immer nach zwei Dingen streben:
- Selbstwertgefühl. In unserem Fall würde das die Fragen aufwerfen: Kann es sein, dass sich der gestresste Kollege nicht wertgeschätzt fühlt angesichts der Menge an Arbeit, die er prinzipiell wegschafft? Kann ich durch Lob und Anerkennung seines immensen Einsatzes ihn auch in diesem Fall zur Kooperation bewegen?
- Sicherheit. In unserem Fall würde das die Fragen aufwerfen: Kann es sein, dass der Kollege das Gefühl hat, dass sich sein Einsatz "nicht rentiert"? Dass er "investiert", ohne eine kalkulierbare Rendite zu erzielen? Dann könnte die Lösung in der Frage liegen: Kann ich durch die Zusicherung, dass diese Anstrengung gesehen und vergolten wird (durch Freizeitausgleich, durch Beförderung, durch lobende Erwähnung in der Vorstandsetage etc.), seine Mitwirkung erreichen?
Damit mündet Führen und Folgen auch in diesem Fall in eine Art Tauschgeschäft: Das Unternehmen braucht rechtzeitig den Jahresabschluss, die Controllingchefin bietet die Lösung eines vielleicht akuten Ressourcenproblems, überfällige Anerkennung oder monetäre Belohnung, und der gestresste Kollege ist bereit, dafür die Extrameile zu gehen.
Licht und Schatten von Tauschgeschäften
Ein Tauschgeschäft, auch wenn es vielen Prozessen des Führens und Folgens zugrunde liegt, sollte nur im Ausnahmefall als solches inszeniert werden: "Du willst, dass ich das tue? Was bietest Du dafür?" Zusammenarbeit auf dieser Basis, quasi als Basarökonomie, vergiftet das Klima.
Gut und richtig ist es aber, wenn die, die führen, immer auch die Interessen und Rahmenbedingungen derjenigen, die folgen sollen, im Blick behalten: "Ich weiß, das ist jetzt viel verlangt, aber nur Sie mit Ihrer Erfahrung können hier das Eisen aus dem Feuer holen, und ich werde dafür sorgen, dass Sie dafür eine Anerkennung bekommen.“ Zusammenarbeit ohne Tauschgeschäft läuft Gefahr, irgendwann in Ausbeutung oder stumpfen "Befehl und Gehorsam" zu münden. Auch das kann niemand wollen.
Randolf Jessl ist Inhaber der Kommunikations- und Leadershipberatung Auctority. Er unterstützt Menschen und Organisationen, die etwas bewegen und in Führung gehen wollen.